02. Oktober 2020. Kaum ein Raumfahrtthema erfährt derzeit in Deutschland so viel mediale Aufmerksamkeit wie der Vorschlag eines deutschen Weltraumbahnhofs in der Nordsee. Ich selbst merke das daran, dass ich nahezu wöchentlich von Journalisten um meine Meinung dazu gebeten werde. Die Frage, die immer gestellt wird, lautet: Brauchen wir in Deutschland wirklich einen Raumfahrtbahnhof in der Nordsee? Meine Antwort ist immer: Ja, wir brauchen ihn. Und ja, der Offshore-Weltraumbahnhof hat das Zeug dazu, Deutschland und Europa in der Raumfahrt einen gewaltigen Schritt nach vorne zu bringen. So könnte es gelingen, die Bedeutung der Raumfahrt für die Wirtschaft in der ganzen Breite noch weiter auszubauen. Darüber hinaus bietet er strategische und logistische Vorteile, die sowohl für den Staat als auch für kommerzielle Starts nicht nur finanziell attraktiv sind, sondern auch für sicherheitsrelevante Raumfahrtmissionen besonders zu beachten sind.
Keiner der bestehenden Standorte ist ideal
Für OHB bietet der Vorschlag, der vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) unterbreitet wurde und weiterhin sehr aktiv vorangetrieben wird, zunächst ganz praktische Vorteile: Für unseren Microlauncher, der bei der Rocket Factory Augsburg entwickelt und gebaut wird und der 2022 zum ersten Mal starten soll, benötigen wir einen Startplatz. Es gibt zwar in Europa einige Spaceport-Initiativen für kleinere Raketen, allerdings sind die Bedingungen bei keinem der angedachten Standorte wirklich optimal. Mal ist die Anzahl der jährlichen Starts begrenzt, mal muss man direkt nach dem Start mit der Rakete ein aufwändiges Manöver fliegen und dafür zusätzlichen Treibstoff einplanen. Will man im Auftrag der Europäischen Kommission starten, muss dies zudem von einem Startplatz erfolgen, der in der Europäischen Union liegt, dies schließt Starts aus Norwegen und Großbritannien aus. Kurzum: Es gibt im Moment in Europa keine wirklich komfortable Startoption.
Raketen werden in Zukunft mehrere Spaceports nutzen
Unsere Rocket Factory Augsburg hat sich nun entscheiden, eine Partnerschaft mit Norwegen einzugehen und zeitnah den dort entstehenden Spaceport auf Insel Andøya zu nutzen. Geplant ist, ab 2022 von dort aus Starts durchzuführen. Für die Möglichkeit und die sehr gute Zusammenarbeit sind wir unseren norwegischen Partnern von Andøya Space und der norwegischen Regierung sehr dankbar. Wir arbeiten ebenfalls sehr eng und sehr gut mit der französischen Raumfahrtbehörde CNES zusammen, um auch die Möglichkeit von Starts der RFA-One-Trägerrakete vom historischen Diamant-Startkomplex in Kourou, Französisch-Guayana, zu untersuchen und vorzubereiten. Dies würde eine Möglichkeit eröffnen, Nutzlasten auch von einem EU-Territorium zu starten. Von dort stünde auch eine Vielzahl von weiteren Zielorbits zur Verfügung. Für das institutionelle Geschäft wäre das sehr vielversprechend, es würde unseren Marktzugang deutlich erweitern. Ich bin fest davon überzeugt, dass Raketen in Zukunft mehrere Spaceports nutzen werden. Das schafft Sicherheit, Flexibilität und einen größeren Marktzugang. Space X demonstriert das in den USA ja eindrucksvoll.
Zudem gilt es für den New-Space-Sektor noch viel mehr als in der klassischen Raumfahrt, möglichst kostengünstig und schnell zu planen. Dazu gehört auch eine einfachere Logistik, die ein deutscher Spaceport natürlich bieten würde. Die Wege wären sehr viel kürzer als bei allen anderen Optionen. Zunächst einmal besteht also ein ganz pragmatisches Interesse der Raumfahrtindustrie an einem Weltraumbahnhof auf deutschem Staatsgebiet.
Bedarf rechtfertigt Investitionen
Es wird auch oft die Frage gestellt, ob sich denn ein solcher Offshore-Spaceport überhaupt lohnen würde, ob es ausreichend Bedarf gibt, um die Investition und die Infrastruktur zu rechtfertigen. Hier lautet die Antwort auch eindeutig Ja, und zwar nicht nur aus Sicht des Raketenfabrikanten, sondern ganz klar auch von der Warte des Satellitenherstellers und Raumfahrtunternehmers aus gesehen. Es gehört für OHB und für jedes andere erfolgreiche Raumfahrtunternehmen zum täglichen Geschäft, den Markt zu beobachten und genau hinzuschauen, wie sich Trends entwickeln. Daher können wir auch die Entwicklung des Kleinsatellitenmarktes gut abschätzen. Wir werden in den kommenden Jahren im Bereich der Klein- und Kleinstsatelliten ein immenses Wachstum erleben, und zwar einerseits für den Markt der Satellitenkonstellationen als auch für kleinere Programme, bei denen Miniflotten oder -schwärme kleiner Satelliten dezidiert für bestimmte Anwendungen gestartet werden.
Bei den Konstellationen wird es weniger um den Aufbau gehen, dafür nimmt man große Raketen, die gleich Dutzende von Kleinsatelliten in den Orbit bringen (dies beobachten wir im Moment immer wieder, wenn für die Starlink-Konstellation von Elon Musk eine ganze Reihe von Satelliten gestartet werden, die dann bei ihrem Weg zur richtigen Orbitposition wie eine Lichterkette am Himmel vorbeiziehen), sondern um den Ersatz einzelner Satelliten. Bei einer Konstellation mit über 3.000 Satelliten kann man sich ausrechnen, dass die Wartung und Instandsetzung für solch ein System schnell zum Fulltimejob werden kann, vor allem, da die kleinen Satelliten ohnehin eine begrenzte Lebensdauer vorweisen - und dies macht man dann mit Microlaunchern, die die Satelliten genauer zu ihrer Position bringen können und die leere Stelle füllen.
Flotten und Schwärme von Satelliten
Eine wirklich spannende Entwicklung ist der Einsatz kleinerer Flotten und Schwärme für Anwendungsgebiete wie Erdbeobachtung und Kommunikation. Dieser Tage starteten auf einer russischen Soyuz-Rakete vier etwa schuhschachtelgroße Satelliten mit einer Masse von jeweils vier Kilogramm, die unter dem Namen „NetSat“ eine technische Weltneuheit demonstrieren werden: Sie werden miteinander direkt kommunizieren, Daten austauschen und sich autonom optimal für ihre Aufgaben hinsichtlich Position und Ausrichtung abstimmen. Dieser Formationsflug soll in Nachfolgemissionen neuartige Beobachtungsmethoden eröffnen, um einzelne Aufnahmen wie ein Puzzle zusammenzusetzen und dreidimensionale Bilder zur Erde zu senden. Diese Formationskontroll-Technologien, die von Prof. Klaus Schillings Team am Zentrum für Telematik in Würzburg entwickelt wurde, ermöglicht weltweit erstmals einen autonomen Formationsflug in einer 3D-Konfiguration und damit viele neue und vor allem kostengünstigere Anwendungen für Kleinsatelliten, die z.B. für die Klimaforschung und die daran gekoppelte Industrie von großem Interesse sein werden. Ein wirklich sehr innovatives Projekt, von dem ich sehr beeindruckt bin. Ich wünsche Prof. Schilling viel Erfolg dabei!
Spaceport erschließt wirtschaftliches Ökosystem
Was sich an einem deutschen Spaceport aber aus meiner Sicht ganz besonders lohnt, jedoch viel zu wenig beachtet und diskutiert wird, ist die zukünftige Vision des Wirtschafts- und Raumfahrtstandortes Deutschland. Es mag für diejenigen Leser, die keine Raumfahrt-Enthusiasten sind, etwas vermessen klingen, an einer schwimmenden Startplattform in der Nordsee das zukünftige Wohl der deutschen Wirtschaft messen zu wollen; mir geht es dabei aber vor allem um den Aspekt der Standortentwicklung und der Wertschöpfungskette. Wir haben in Deutschland mit dem Spaceport gerade die nahezu historische Chance, in einem Zukunftsmarkt - und das ist die Raumfahrt unbestritten! - mit relativ geringem Investment ein Cluster zu schließen und dadurch ein wirtschaftliches Ökosystem anzubieten, das vom Hersteller der kleinsten Schraube bis zur vollständigen Anwendung des Produkts alles umfasst. Und dabei geht es bei weitem nicht nur um die wirklich sehr gut aufgestellte und weltweit wettbewerbsfähige deutsche Raumfahrtindustrie. Bei unserem Microlauncher-Projekt schauen wir sehr bewusst auf Produkte, die es bereits gibt und die wir kostengünstig einkaufen können, z.B. aus der Automobilbranche oder aus der Luftfahrt. Dass die Raumfahrt in Deutschland so gut aufgestellt ist, liegt ohne Zweifel auch daran, dass wir von Spitzentechnologie in vielen anderen Bereichen umgeben sind und davon profitieren und lernen können.
Schub für die Wirtschaftsentwicklung
Wer sich einmal angeschaut hat, welche Ansiedelungen rund um einen Flughafen fast automatisch entstehen, wird verstehen, dass dies für einen Weltraumflughafen fast genauso gelten kann: Dort, wo ich mein Produkt in die Anwendung bringe, versuche ich auch zu produzieren. Dort, wo produziert wird, trifft man auch den Kunden. Ein deutscher Spaceport wird der Entwicklung der Wirtschaft unweigerlich einen Schub verleihen, der sich aufgrund der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten für die gesamte deutsche Wirtschaft sehr schnell von der direkt betroffenen Raumfahrtbranche ausbreiten kann. Bemerkbar macht sich das jetzt schon bei der maritimen Wirtschaft, die natürlich aufgrund der Plattform großes Interesse am Spaceport hat, die allerdings auch das Entwicklungspotenzial sehr schnell erkannt hat.
Natürlich kann man viele Gründe aufzählen, warum ein solcher Spaceport in der Nordsee schwierig ist oder weitere Probleme mit sich bringt. Ich gebe auch ganz offen zu, dass es noch Showstopper geben mag, die wir heute noch nicht kennen; wenn z.B. umwelt- oder naturschutzrechtliche Gründe oder der Artenschutz dagegen sprechen sollten. Mir ist vollkommen bewusst, dass diese Aspekte nicht einfach wegzuwischen sind und damit umgegangen werden muss. Dennoch erleben wir gerade ein Momentum, das man durchaus mit der Gigafactory in Grünheide vergleichen kann.
Wenn ich heute ein Start-Up gründen würde, das sich auch nur im Entferntesten mit Raumfahrt oder den daraus resultierenden Anwendungen beschäftigt – übrigens ein Markt, der noch schneller wächst und auch in der Bedeutung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eine ganz andere Hausnummer ist –, ich würde mir einen Standort dafür suchen, der mir ein möglichst optimales Umfeld bietet und bei dem ich mir sicher sein kann, dass ich Planungssicherheit für die kommenden Jahre habe. Mit einem deutschen Spaceport würde die Ambition, die Deutschland in der Raumfahrt in den letzten Jahren bewiesen hat und die überhaupt erst zur positiven Entwicklung des New-Space-Ökosystems geführt hat, fortgeführt und würde dem Anspruch, der nächsten Generation Raumfahrer eine gute Zukunftsperspektive zu bieten, gerecht werden. Ich würde also hier gründen und darauf setzen, dass ich in naher Zukunft von einem Begleitboot aus „mein Produkt“ bei seinem Start mit einem Microlauncher von einem Offshore-Spaceport in der Nordsee beobachten kann.
Zur Person
Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.