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Eine Kolumne von Marco Fuchs: Gedanken über Zeit und Raum

Trotz Corona-Pandemie:
5 Gründe, warum die Raumfahrt 2021 weiter an Bedeutung gewinnt

22. Dezember 2020. Was für ein Jahr! Geht es Ihnen auch so? Ich schaue immer noch ein wenig ungläubig auf das, was seit März 2020 passiert ist. Auf der anderen Seite bin ich aber auch beeindruckt, wie Staaten, Gesellschaften und Unternehmen schnell und pragmatisch auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie reagiert haben. Einige Branchen mussten allerdings deutlich mehr unter den Corona-Folgen leiden als andere. Und deshalb bin ich am Ende des Jahres natürlich glücklich, Inhaber und CEO eines Unternehmens der Raumfahrtindustrie zu sein. Denn wir sind vergleichsweise gut durch die Krise gekommen – sowohl was die Folgen für unsere Belegschaft als auch die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse angeht. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass wir es in der Raumfahrt mit lang laufenden Projekten zu tun haben.
Ich möchte mich in dieser Kolumne allerdings weniger mit einer Bilanz des Jahres 2020 beschäftigen, sondern vielmehr den Blick nach vorne richten und einige Bemerkungen zu meinen Erwartungen für das Jahr 2021 und darüber hinaus machen. Es gibt 5 Trends, die meiner Überzeugung nach dafür sorgen werden, dass die Raumfahrt auch künftig weiter an Bedeutung gewinnen wird.
Zunächst möchte ich Ihre Aufmerksamkeit allerdings auf eine sehr wichtige Personalie richten, über die kürzlich entschieden wurde. Der ESA-Rat hat Mitte Dezember den Österreicher Josef Aschbacher zum neuen ESA-Generaldirektor ernannt. Er wird den Posten am 1. Juli 2021 antreten und damit dem Deutschen Jan Wörner folgen, der seit 2015 ESA-Chef ist. Ich kenne beide sehr gut. Wörner hat viel für die Raumfahrt in Europa geleistet, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Der gebürtige Tiroler Aschbacher ist eine Art ESA-Urgestein, er ist seit 1990 bei der Europäischen Raumfahrtbehörde beschäftigt. Derzeit ist er als Direktor für Erdbeobachtungsprogramme für die Copernicus-Missionen zuständig, mit denen Daten zum Klimawandel gesammelt werden sollen. Er bringt also viel Erfahrung mit – und er setzt auf Themen, die die Zukunft der anwendungsorientieren, nützlichen Raumfahrt weiter befördern werden. Womit ich auch bei dem ersten Trend bin, der dafür sorgen wird, dass die Raumfahrt an Bedeutung gewinnen wird.

Mehr und bessere Daten über die Entwicklung des Klimas und der Umwelt werden unser Schicksal entscheiden

Diese Daten werden künftig sozusagen live zur Verfügung stehen. Es wird eine permanente Überwachung von Klima- und Umweltparametern via Satelliten geben. Den Druck, diese Datenbasis auf Abruf ständig verfügbar zu haben, hat sich Europa kürzlich selbst gemacht. Beim letzten EU-Gipfel im Dezember hat die EU ihre eigenen Klimaziele für 2030 deutlich verschärft. Der Ausstoß von Treibhausgasen soll um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 sinken, bisher galt ein Minus von 40 Prozent. Damit bekräftigt Europa sein Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden.
Dass es Europa ernst meint mit einer weltweit führenden Rolle im Klimaschutz, wurde schon im November 2019 durch den Beschluss der damaligen ESA-Ministerratskonferenz deutlich. Die ESA-Staaten haben sich damals auf sechs weitere Missionen des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus verständigt. Im Sommer 2020 hat die ESA die Aufträge dazu vergeben. Ich glaube fest daran, dass die Klimaziele nur dann erreicht werden können, wenn stichhaltige Daten und Fakten vorliegen, die der Wissenschaft als Basis für neue Klimamodelle dienen und Politikern als Grundlage, davon kluge Entscheidungen abzuleiten. Die Quelle dieser Daten werden künftig zunehmend Satelliten sein.
Darüber hinaus müssen wir uns jedoch auch mit der Frage beschäftigten, ob die bisherigen Maßnahmen, die Treibhausgasemissionen zu beschränken, ausreichend sind. Ich habe im Lauf dieses Jahres viele Gespräche mit Wissenschaftlern dazu geführt. Sie haben mir erklärt, dass sich die Klimakrise in einer Art beschleunigt, die auch alternative Maßnahmen erfordern könnte. Experten sprechen dabei von Geoengeneering beziehungsweise Solar Radiation Management. Ein Team aus Ingenieuren und Wissenschaftlern von OHB hat sich in einer internen Studie damit beschäftigt. Nach einem intensiven Austausch mit Klimaforschern der Universität Bremen und des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven bin ich zu dem Schluss gekommen: wir müssen eine Diskussion über flankierende Maßnahmen durch Geoengeneering führen. Noch gibt es viele Vorbehalte, doch auch auf diesem Feld ist ein Live-Tracking der Maßnahmen durch Raumfahrttechnologie möglich und würde dadurch Irrwege schnell sichtbar machen. Das führt mich zu Trend Nummer 2:

Der Ausbau der europäischen Satellitennetze wird ungebremst fortgesetzt werden

Anfang 2021 wird die ESA die Aufträge für die Satelliten der zweiten Generation des europäischen Navigationssystems Galileo vergeben. Die Flotte der Satelliten des europäischen Erdbeobachtungssystems Copernicus wird aus den oben beschriebenen Gründen stetigen Zuwachs erfahren. Und schließlich hat die ESA vor einigen Wochen den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie für ein drittes großes europäisches Satellitenprogramm an ein Konsortium europäischer Raumfahrtunternehmen initiiert, zu denen auch OHB gehört. Die EU plant, eine sogenannte Konstellation – also eine Flotte tausender kleiner Satelliten – zu entwickeln, um flächendeckendes Internet aus dem All anbieten zu können. Das wird Trend Nummer 3 deutlich voran bringen.

Das Segment des sogenannten New Space wird sich auch in Europa als wichtiger Bereich der Raumfahrt durchsetzen und die Kommerzialisierung der Branche vorantreiben

Josef Aschbacher hat bei einer Pressekonferenz aus Anlass seiner Berufung einige Punkte genannt, die er gleich an seinem ersten Arbeitstag angehen will. Dazu gehört, die Kommerzialisierung der Raumfahrt „intensiv voranzutreiben“. Deutschland spielt dabei eine führende Rolle! Wir erleben gerade ein „Race to Space“ dreier Start-Ups, die an sogenannten Microlaunchern arbeiten, also kleinen Raketen, mit denen kleine Satelliten ins All geschossen werden können. Eines dieser ambitionierten Unternehmen ist die Rocket Factory Augsburg, die unter dem Dach von OHB den Erststart für 2022 plant.
Ich glaube fest an den Markt, den Microlauncher künftig bedienen können. Die Satelliteninfrastruktur wird künftig auch zunehmend von Schwärmen hunderter bis tausender kleiner Satelliten gebildet, die in niedrigen Orbits eine Vielzahl unterschiedlicher kommerzieller Dienste liefern werden. Das wird zu einer Industrialisierung der Satellitenindustrie führen, womit die Produktion eines Modells deutlich günstiger werden wird. Diese Industrialisierung werden wir dann auch bei den kleinen Raketen erleben. Denn Konstellation müssen sehr viel öfter mit Ersatzsatelliten versorgt werden. In einigen Jahren werden wir deshalb eine sehr viel stärker industrialisierte sowie kommerzialisierte europäische Raumfahrt sehen.


Diese Entwicklung hat in den USA schon vor einigen Jahren eingesetzt. Vor allem durch das Aufkommen von Unternehmen wie Space X von Elon Musk oder Blue Origin von Jeff Bezos. Ich habe diese Entwicklung immer eng verfolgt. Durch die Beteiligung von OHB an dem US-Satellitenbetreiber Orbcomm habe ich über viele Jahre einen guten Einblick in die Entwicklungen in Amerika gewonnen. Und deshalb bin ich auch überzeugt davon, dass Trend Nummer 4 mit der Wahl des Demokraten Joe Biden zum nächsten Präsidenten der USA sehr wahrscheinlich sein wird:

Die transatlantische Zusammenarbeit wird wieder neu belebt werden

Und das wird sich auch positiv auf die Raumfahrt auswirken. Europäer und Amerikaner haben in der Vergangenheit auf diesem Feld immer sehr gut und erfolgreich zusammengearbeitet. Ich bin überzeugt, dass wir deshalb in den nächsten Jahren wieder mehr gemeinsame Projekte erleben werden – und ich bin auch zuversichtlich, dass daraus neue, langfristige Kooperationen und Partnerschaften entstehen werden.
Diese wiederbelebte gute Zusammenarbeit zwischen Europa und Amerika wird auch Deutschland neues Selbstverstrauen verschaffen. Die Bundesrepublik verfügt durch die Fähigkeiten der deutschen Raumfahrtindustrie über Technologien, mit denen sie künftig einen wichtigen Beitrag in der NATO und für die Souveränität Europas leisten kann. Aufklärungs-, Beobachtungs- und Kommunikationstechnologien sind dafür entscheidende Kompetenzen. Deutschland wird so auch seiner Verantwortung für die Sicherheit der Bürger der Europäischen Union gerecht werden können. Und natürlich, damit bin ich bei Trend Nummer 5:

Corona wird nicht nur 2021, sondern noch weit darüber hinaus einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft haben

Viele Dinge werden bleiben, auch wenn ein Impfstoff in einiger Zeit wieder so etwas wie Normalität herstellen wird. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass wir wieder in gleicher Weise beruflich reisen werden. Jedes Unternehmen hat in den vergangenen Monaten für sich festgestellt, wie einfach und vor allem wie viel ressourcenschonender es ist, sich bei reinen Abstimmungsrunden per Video- oder Telefonkonferenz zu besprechen. Es wird auch kein Zurück mehr zur alten Präsenzkultur geben. Flexible Arbeitsmodelle, Arbeiten von unterwegs oder Zuhause – das wird sich in einem für den jeweiligen Bereich passenden Mix zur Selbstverständlichkeit entwickeln. Für mein Unternehmen kann ich zudem sagen, dass Corona uns gezeigt hat, wie unglaublich kreativ, verantwortungsbewusst und schnell die Belegschaft auf die Krise reagiert hat. Daraus folgen wichtige neue Impulse für die Weiterentwicklung von Unternehmenskulturen.
Wir dürfen nur eine Sache nicht dabei vergessen: vor 20 Jahren wäre all das in dieser Form nicht möglich gewesen. Warum? Ganz einfach: weil die Technologie damals noch nicht soweit war. Es wäre gar nicht auszudenken, welche Folgen diese Pandemie um die Jahrtausendwende gehabt hätte. Home Office: undenkbar. Mobiles Arbeiten: technisch kaum umsetzbar. Home Schooling: womit? Die für mich entscheidende Konsequenz aus der Pandemie lautet: wir müssen die Digitalisierung in Deutschland massiv weiter vorantreiben. Ich halte es aufgrund der Erfahrungen des Jahres 2020 nicht für übertrieben zu sagen: der Digitalisierungsgrad einer Gesellschaft entscheidet heute darüber, wie resilient sie gegenüber Krisen und großen Herausforderungen ist. Der Ausbau der Digitalinfrastruktur wird nicht zuletzt auch über raumfahrtbasierte Technologien geschehen. Satelliten werden einen wesentlichen Teil flächendeckender Versorgung mit Internet leisten.


Zur Person

Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.