24. November 2020. Ein bemerkenswertes Jahr neigt sich langsam dem Ende zu. Es wird in den gewohnten Jahresrückblicken ausführlich nacherzählt und bedacht werden. Der 12. Oktober, da bin ich sicher, wird in diesen Rückblicken auch vorkommen. Es war der Tag, an dem das Forschungsschiff Polarstern nach einer mehr als ein Jahr dauernden Expedition wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Gegen 9 Uhr lief der Eisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) mit dem Morgenhochwasser in seinen Heimathafen Bremerhaven ein.
Eine Mission über alle Grenzen hinweg
Das AWI hatte federführend eine Expedition der Superlative – MOSAiC – organisiert. Am 20. September 2019 verließ die Polarstern den norwegischen Hafen Tromsø Richtung Arktis, ließ sich dort auf einer Eisscholle festfrieren und Richtung Nordpol driften. Insgesamt 442 Menschen nahmen daran teil, mehr als 80 Institutionen aus 20 Ländern. Die Wissenschaftler der Expedition kamen aus 37 Ländern. Ihr Ziel: die Wechselwirkungen von Eis, Ozeanen, Atmosphäre und Leben zu erforschen und auf Klimamodelle zu übertragen.
Mich hat diese Expedition schon bei ihrem Start fasziniert. Nicht deshalb, weil ich es als existenziell wichtig für die weitere Zukunft der Menschheit betrachte, mehr und genauer über die Veränderungen des Klimas und unserer Umwelt Bescheid zu wissen. Sondern auch, weil dieses weltweite, alle Völker und Kulturen verbindende Vorhaben mit einem ähnlich weltweit, alle Völker und Kulturen verbindenden Projekt in der Raumfahrt verglichen werden kann: der internationalen Raumstation ISS. Auch für den Bau der ISS kamen viele Nationen zusammen, die trotz aller Rivalität bereit waren, etwas Großes auf die Beine zu stellen.
Ein schlechtes Jahr für das Klima
Möglicherweise wird der MOSAiC-Expedition in den anfangs erwähnten Jahresrückblicken jedoch nicht die angemessen Bedeutung beigemessen. Das Thema des Jahres 2020 ist schließlich Corona. Verstehen Sie mich nicht falsch: eine Pandemie ist eine furchtbare Sache. Menschen sterben, viele andere leiden – gesundheitlich wie wirtschaftlich. Doch während wir uns 2020 in der Öffentlichkeit fast einzig und allein mit dem Thema Corona auseinandergesetzt haben, hat sich für das weltweite Klima ein Jahr des Horrors ereignet: 2020 könnte als das heißeste Jahr seit Beginn der Messungen in die Geschichte eingehen. Zudem haben die extremen Klimaereignisse zugenommen. In Sibirien gab es Hitzerekorde; in Australien und Kalifornien brannten die Wälder; in Südamerika wird der Regenwald rücksichtslos abgeholzt; und in der Arktis schmilzt das Eis. Und genau das haben die Forscher rund um das AWI beobachtet. Ich erinnere mich an den MOSAiC-Expeditionsleiter Markus Rex, der an jenem 12. Oktober in einem TV-Beitrag sagte: „Wir haben gesehen, wie das Eis der Arktis stirbt.“
Klimamodelle zu optimistisch berechnet
Die Direktorin des AWI, Antje Boetius, und ich kennen uns. In Bremen, wo wir beide leben, gehört es zur Stadtkultur, dass man sich zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aufmerksam austauscht. Bei einem dieser Gespräche, es war ein langes Telefonat im Sommer, war sie sehr ernst und besorgt. Sie hat mir erklärt, dass die Klimamodelle bisher viel zu optimistisch berechnet waren. Dass vor allem die Auswirkungen der Eisschmelze auf die Ozeane und damit auf deren Temperatur sowie auf den Anstieg der Meeresspiegel weit schlimmer sind, als es die weltweite Forschergemeinde in den vergangenen 20 Jahren angenommen hat.
Ich muss zugeben, dass mich das Gespräch sehr nachdenklich gemacht hat. Es hat mich aber auch gleichzeitig in meiner Überzeugung bestärkt, dass die Zukunft der Menschheit und das Überleben des Planeten von wissenschaftlich fundierten Fakten und daraus abgeleiteten Erkenntnissen abhängen. Antje Boetius hat mir erzählt, dass die MOSAiC-Expedition einen einmaligen Datensatz mit nach Hause gebracht hat. Sie hat diese Daten als „Geschenk an die Menschheit“ bezeichnet und ihre Hoffnung damit verbunden, dieses neue Wissen zu nutzen, um die richtigen Entscheidungen für die Zukunft unseres Planeten zu treffen.
Das Problem dabei: der Menschheit läuft die Zeit davon. Es gibt eine Reihe von Klimaforschern, die der Ansicht sind, dass die Klimaziele von Paris nur noch schwer oder gar nicht mehr zu erreichen sind. Zumindest nicht mit den üblichen Maßnahmen des Klimaschutzes – wie weniger CO2-Ausstoß, umsteigen auf alternative Energien oder klimafreundlichere Lebens- und Ernährungsgewohnheiten. Das Kernproblem besteht darin, dass es auf der Erde zu heiß wird. Die Effekte, die bislang dafür gesorgt haben, dass sich die Strahlung der Sonne maßvoll auf unseren Planeten auswirkt, werden durch den vom Menschen verursachten Wandel des Klimas und der Umwelt außer Kraft gesetzt.
Technische Konzepte zur Bekämpfung des Klimawandels
Deshalb müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um die eingeleiteten Maßnahmen zum Schutz der Erde zu verstärken. Aber ich habe nach vielen Gesprächen, die ich mit Wissenschaftlern und Forschern zu dem Thema geführt habe, das Gefühl, dass diese Maßnahmen allein nicht ausreichen werden, das Ruder rechtzeitig herumzureißen. Die Erderwärmung schreitet bedrohlich schnell voran. Deshalb habe ich ein OHB-Team mit einer Studie beauftragt. Unsere Ingenieure sollten unterschiedliche Konzepte prüfen, die einen Beitrag dazu leisten können, die Erderwärmung abzuschwächen. Dazu gehörte, bereits bestehende Konzepte zu recherchieren und zu bewerten. Das Team hatte aber auch die Aufgabe, eigene Konzepte zu entwickeln.
Der Titel dieser internen Studie lautet „Solar Radiation Management“ (SRM). In dieser Studie wurden Konzepte untersucht, die das Ziel verfolgen, entweder die auf die Erde treffende Strahlung zu reduzieren, den Anteil der von der Erdoberfläche reflektierten Strahlung zu erhöhen oder auf anderem Wege die Auswirkungen von klimarelevanten Gasen zu reduzieren. Diese technologischen Eingriffe in die Beschaffenheit der Erde sind umstritten. Es gibt eine Reihe von moralischen Fragen, die sich in dem Zusammenhang stellen: welche langfristigen Folgen haben Eingriffe in die Natur? Vor allem Natur- und Tierschützer klagen zu Recht, dass der Verlust von natürlichem Lebensraum und eine deutliche geringere Artenvielfalt auf Eingriffe des Menschen zurückzuführen sind.
Unser Team hat folgende Konzepte näher untersucht:
- Aerosole in der Stratosphäre versprühen: der Anteil des reflektierten Lichts wird erhöht und die Erderwärmung dadurch gebremst.
- Künstliche Wolken über den Ozeanen: auch mit diesem Konzept wird der Anteil des reflektierten Lichts erhöht und damit ein Beitrag dazu geleistet, die Temperatur der Meere und damit die Temperatur der Atmosphäre wieder zu reduzieren.
- Aufforsten: Milliarden Bäume werden gepflanzt, die CO2 aus der Atmosphäre filtern.
- Oberflächen bleichen: weiß bemalte Dächer und Straßen, mit reflektierendem Material abgedeckte Wüsten, Felder und Wasserflächen sorgen dafür, dass das Sonnenlicht stärker reflektiert wird.
- CO2-Speicher im Erdboden: Kohlenstoffdioxid-Emissionen werden tief im Erdboden gespeichert
- Sonnen-Schilde im All: Unzählige Sonden mit großen Schirmen werden im All positioniert, um die Erde zu beschatten.
Die Studie hat nun eine Bewertung dieser Technologien vorgenommen. Sie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien die „Stratospheric Aerosol Injection“ die besten Aussichten hat, der Erderwärmung zu begegnen. Die Methode ist sehr wirkungsvoll, bezahlbar und recht schnell umzusetzen. Ein Problem besteht darin, dass die ausgebrachten Aerosole noch nicht näher erforschte Folgen für die Ozon-Schicht und die Troposphäre haben könnten. Alles in allem gilt diese Methode jedoch als die technisch machbarste.
Bäume zu pflanzen ist keine Lösung
Überrascht hat mich, dass die viel diskutierte Methode „Bäume pflanzen“ für das Ziel, den Treibhauseffekt zu reduzieren, so gut wie keine Wirkung entfaltet. Der Grund liegt vor allem darin, dass dafür zu wenig Fläche zur Verfügung steht, nicht nur, um genug davon zu pflanzen, sondern auch, um die Bäume einzulagern. Denn zu einer CO2-Reduktion kommt es nur, wenn die Bäume nach ihrer Ernte z.B. in Bergwerken ohne Verbindung zur Atmosphäre eingelagert werden. Ansonsten würde beim Verrotten (oder Verbrennen) der Bäume wieder genau so viel CO2 in die Atmosphäre abgegeben, wie die Bäume während ihres Wachstums gespeichert haben.
Und was ist mit dem raumfahrtbasierten Konzept? Nun, das wäre sicherlich hoch wirksam, wenn es gelänge, die notwendigen Sonden in einem zeitlich begrenzten Rahmen zu bauen und an einen Ort rund 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt zu transportieren und dort zu betreiben. Dort, am sogenannten Lagrange-Punkt 1, sind die auf einen Körper wirkenden Anziehungskräfte von Sonne und Erde im Gleichgewicht und man könnte deshalb Raumfahrzeuge dort stabil positionieren. Je nach Größe der aufgespannten Schilde würde man nach unseren Berechnungen je nach Verfügbarkeit der erforderlichen Technologien und Trägersysteme zwischen 31.000 und 1,8 Millionen dieser Sonden benötigen, um rund 2 % der Sonnenenergie abzuschirmen. Allerdings sind die Effekte auf das lokale Klima sowie Fauna und Flora noch nicht ausreichend erforscht.
Diskussion über Geoengineering muss in Gang kommen
Es ist an diesem Punkt der Diskussion aber auch gar nicht meine Absicht, ein raumfahrtbasiertes Konzept in den Vordergrund zu schieben. Es wäre nur einigermaßen verwunderlich gewesen, wenn ein Raumfahrtunternehmen ein solches Konzept nicht wenigstens in Betracht gezogen hätte. Nein, mir geht es vielmehr darum, eine Diskussion in Gang zu bringen. Sie soll den Blick auf die Notwendigkeit lenken, dass wir durch die bisherigen Maßnahmen, die Erderwärmung zu begrenzen oder umzukehren, nicht wirklich weit gekommen sind .
Vor allem wünsche ich mir einen breiteren Blick auf die Möglichkeiten, die die Wissenschaft und Technologie heute bereits bieten. Wir sollten uns nicht in unserem Denken über mögliche sinnvolle Maßnahmen einengen. Vor allem sollten wir all unser Tun auf wissenschaftlich fundierte Fakten stützen. Und ich bin nach der Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen zu der Überzeugung gelangt: Technologien, die in den Bereich des Geoengineerings fallen, sorgen bei vielen Menschen noch für Ängste. Sie fragen sich: Welche Folgen hat es für die Erde, wenn Technologien in globalem Maßstab eingesetzt werden? Aber die Klimakrise und die steigenden Temperaturen auf der Erde lassen diese Technologien immer mehr zu einer notwendigen und vor allem kurzfristig machbaren Lösung werden.
Satelliten können Wirksamkeit von Geoengineering überwachen
Wichtig ist dabei vor allem ein ganzheitlicher Blick. Das Klima ist ein hochkomplexes System, das durch unzählig viele miteinander wechselwirkenden Faktoren gebildet wird. Auch deshalb müssen Eingriffe in dieses System immer sehr, sehr genau überlegt werden. Darum ist es wichtig, dass wir Weltraumsysteme, wie etwa Erdbeobachtungssatelliten, als wichtige Unterstützer für erdgebundene Methoden betrachten. Sie können durch ihre Daten und Beobachtungen die Wirksamkeit und die Folgen von Geoengineering-Maßnahmen belegen. So könnten Satelliten etwa gut messen, wie sich das Versprühen von Aerosolen auf den Strahlungshaushalt der Erde, die Wolkenbildung oder Niederschläge auswirkt.
Und was das raumfahrtbasierte Konzept der Sonnenschilde angeht: 2020 ist es weder bezahlbar, noch wären wir in der Lage, derart viele Sonden rechtzeitig an den richtigen Ort zu bringen. Doch was ist, wenn es uns nicht gelingt, die Erderwärmung durch andere Maßnahmen zu stoppen? Wenn wir Ende dieses Jahrhunderts feststellen müssen, dass wir zu lange mit Gegenmaßnahmen gewartet haben? Mit zunehmenden durch den Klimawandel verursachten globalen Schäden und mit zunehmender Dringlichkeit würden die Kosten an Bedeutung verlieren. Es ginge nur noch darum, die Erde und auch die Zivilisation zu retten. Dann würden sich die Menschheit mit großer Wahrscheinlichkeit erneut über alle Grenzen von Völkern und Kulturen hinweg und trotz aller Rivalität bemühen, etwas Großes auf die Beine zu stellen.
Zur Person
Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.