28. Mai 2020. Der größte Wunsch der Menschen ist im Moment die „Rückkehr zur Normalität“. Was Normalität dabei definitionsmäßig eigentlich bedeutet (in der Soziologie ist Normalität als das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss, definiert), ist aus meiner Sicht gar nicht so wichtig, der Kern der Forderung ist, dass wir wieder dahin zurück wollen, wo wir vor der Pandemie waren. Und es geht dabei vielen Mitmenschen überhaupt nicht um das Wie, sondern eher um das Wann. Aber sollten wir nicht eher überlegen, wie das neue Normal überhaupt aussehen wird? Und was ist vielleicht von dem, was wir jetzt als unnormal empfinden, am Ende das bessere Normal?
Am Dienstag dieser Woche hätten wir in der „alten Normalität“ in Bremen rund 450 Aktionärinnen und Aktionäre von OHB zur jährlichen Hauptversammlung begrüßt. Corona jedoch hat aus dem üblichen Treffen mit unseren geschätzten Anteilseignern die erste virtuelle Hauptversammlung in der Geschichte von OHB gemacht. Ich gebe zu, dass ich das sehr gewöhnungsbedürftig fand. Natürlich bin auch ich durch die letzten Wochen geschult und geübt in Videokonferenzen, Telefonschalten und kenne fast jede gängige Anwendung für virtuelle Meetings. Gerade bei internen Besprechungen mit Mitarbeiter*Innen von OHB sehe ich häufig, dass das Umdenken hin zu digitalen Besprechungen keine Effizienzverluste mit sich bringt, ganz im Gegenteil führt es dazu, dass wir gerade bei den standortübergreifenden Themen einen besseren Austausch haben. Die Hauptversammlung hat jedoch eine andere Qualität: ich freue mich, wenn ich die Anteilseigner einmal im Jahr treffe, viele unserer Aktionäre sind von Tag Eins des Börsengangs dabei und bei sehr vielen merken wir auch, dass sie sich der Firma sehr verbunden fühlen. Daher wünsche ich mir sehr, dass wir 2021 unsere Anteilseigner wieder persönlich begrüßen dürfen.
In zehn Wochen kein einziges mal geflogen
Normalerweise wäre ich wahrscheinlich am Tag nach der Hauptversammlung morgens um 06:00 Uhr mit dem ersten Flieger von Bremen zu Terminen und Besprechungen an einen der OHB-Standorte oder zur ESA nach Paris oder nach Brüssel geflogen. In den letzten zehn Wochen bin ich kein einziges Mal geflogen, war überhaupt nur ein, zwei Mal dienstlich außerhalb Bremens. Und zu diesen Terminen bin ich mit dem Auto gefahren – auf weitgehend leeren Straßen. War ich bis Anfang März in der Regel höchstens zweimal pro Woche im Büro, so sind es jetzt regelmäßig fünf Tage. Ich kann mir die Zeit nehmen kann, mich ausführlicher mit anderen wichtigen Themen in der Firma zu beschäftigen. Es gibt keine Dienstreisen mehr, es finden keine Veranstaltungen mehr statt, nicht tagsüber, nicht abends. Noch nie in meinem Leben habe ich so oft Zuhause zu Abend gegessen.
Für OHB bedeutet das übrigens, dass wir monatlich rund 500.000 Euro Reisekosten einsparen, ein nicht zu verachtender Posten. Natürlich werden wir unsere Reisetätigkeit bei OHB wieder aufnehmen, ich prognostiziere jedoch, dass es zu einer neuen Normalität gehören wird, viele der bewährten Digitalformate zu behalten und dadurch erheblich weniger dienstlich zu reisen- und ich glaube, dass dies nicht nur für OHB gelten wird, sondern für Dienstreisen insgesamt. Die Auswirkungen auf die Reise- und Mobilitätsbranche und die daran mittelbar und unmittelbar gekoppelten weiteren Bereiche Wirtschaftszweige sind erheblich: Die Flughäfen verlieren Kunden und vor allem Reisende. Ohne die Start- und Landegebühren fehlen ihnen die Einnahmen und damit die Liquidität, um Gehälter zu bezahlen. In den Airports verlieren die Einzelhändler ebenfalls ihre Kunden, können somit die Mieten nicht mehr leisten und sperren im schlimmsten Fall ihr Geschäft zu. Die Airlines fliegen nicht mehr, haben demnach ebenfalls keine Einnahmen mehr, ihre Mitarbeiter werden in Kurzarbeit geschickt oder müssen schlimmstenfalls entlassen werden. Weil die Airlines aber auch keine Flugzeuge mehr benötigen, ziehen sie Bestellungen zurück, was sich wiederum auf die Luftfahrtindustrie auswirkt. Dort wiederholt sich das Spiel auf der Arbeitnehmerseite. Das ist natürlich das worst case-Szenario, dennoch müssen wir aus heutiger Sicht davon ausgehen, dass es bei Dienstreisen eine neue Normalität geben wird.
Es wird einen Trend zur Lokalisierung geben
Mir ist im Lauf der vergangenen Wochen auch klar geworden, wie stark vernetzt und damit auch gleichzeitig verletzlich die Wirtschaft weltweit inzwischen geworden ist. Vor allem in der industrialisierten Serienfertigung sind die Unternehmen abhängig von einer reibungslos funktionierenden Zulieferkette. Wenn nicht vorhersehbare Ereignisse eintreten, wie derzeit eine Pandemie, ist die Produktion gefährdet. Deshalb glaube ich schon, dass wir in einigen Bereichen der Wirtschaft eine Deglobalisierung erleben werden. Es wird Branchen geben, die sich nicht mehr so unreflektiert wie zuvor globalisieren werden. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass die Pharmabranche als eine der ersten Wirtschaftsbereiche derartige Überlegungen anstellen wird. Es hat sich als Nachteil erwiesen, dass Europa bei Schutzkleidung und Masken durch die Globalisierung auf Lieferungen aus Asien angewiesen war und noch immer ist.
Europa wird strategische Überlegungen anstellen müssen, welche Fähigkeiten unabdingbar in der Union vorgehalten werden müssen und zu welchen Konditionen. Es wird Bereiche geben, die, um sie zeitnah und mit direktem Zugriff verfügbar zu haben, subventioniert oder sogar komplett staatlich aufgestellt werden müssen. Der Einstieg der Bundesrepublik Deutschland bei der Lufthansa hat zwar andere Gründe, dennoch macht der Schritt deutlich, dass es Infrastrukturen gibt, die es zu schützen und zu bewahren gilt, und dazu zählt eben auch die Raumfahrt. Daher ist es gut und wichtig, dass wir mit Galileo und Copernicus schon gute europäische Raumfahrtprogramme haben, die einen hohen strategischen Wert haben und die Europa unabhängig von anderen macht. Auch der unabhängige europäische Zugang zum All ist ein wichtiger Baustein einer strategisch-technologisch orientierten Europäischen Union.
SpaceX setzt weiteren Meilenstein
In der Normalität vor Corona wäre ich jetzt vielleicht auf dem Rückweg aus Florida, denn ich hätte es mir wohl nicht nehmen lassen, bei einem Meilenstein in der Geschichte der Raumfahrt persönlich vor Ort zu sein: am 27. Mai sollte zum ersten Mal eine Falcon 9-Rakete von SpaceX mit zwei NASA-Astronauten zur Internationalen Raumstation ISS aufgebrechen - der Start musste wegen schlechten Wetters auf den 30. Mai verschoben werden. Dann hat es aber reibungslos geklappt. Ich habe mir den Start im Internet per Livestream angeschaut. Nach rund 20 Stunden Flug ist die "Crew Dragon" an der ISS angekommen und die Raumkapsel hat wie geplant angedockt. Es war das erste Mal seit 2011, dass Astronauten wieder von amerikanischem Boden aus zur ISS geflogen sind. Und den Transport hat eine private Firma im Auftrag der NASA übernommen, über die vor gut 15 Jahren in der Branche viele gelacht haben.
Ich habe erst letzte Woche beim Stöbern im Archiv das Programm des Internationalen Raumfahrtkongresses IAC aus dem Jahr 2003 gefunden, der damals in Bremen stattfand. Dort hat Hans Koenigsmann, Chefingenieur bei SpaceX, erstmals international die Pläne für die Falcon 9-Rakete vorgestellt, die damals in Vielem noch Bleistiftzeichnungen auf Papier waren. Heute ist SpaceX das weltweit führende Unternehmen für Raketenstarts und hat mit der Beförderung von Astronauten einen gewaltigen Schritt in der Entwicklung der privaten Raumfahrtunternehmen gemacht. Und wenn ich mir den ganzen Ablauf, das Design der Kapsel und der Anzüge anschaue, dann erkenne ich dabei einen komplett neuen Ansatz. Wo in frühreren Cockpits von Raumfähren und -Kapseln mehr als 1000 Schalter und Knöpfe untergebracht waren, findet man in der SpaceX-Kapsel nur Touchscreens - die Crew Dragon ist im Grunde wie ein Tesla konzipiert. Ich freue mich ungemein für das SpaceX-Team. Nicht nur, weil ich einige der federführenden Persönlichkeiten dort persönlich kenne, sondern auch, weil Elon Musk damit erneut bewiesen hat, dass sein Unternehmen SpaceX die Raumfahrt nach vorne bringt. Nicht nur wegen seiner genialen Marketingkampagnen, sondern auch wegen einer in bestimmten Bereichen unbestreitbar besseren und effizienteren Technologie.
Zur Person
Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.