26. Februar 2019. „Wenn ein Wissen reif ist, Wissenschaft zu werden, so muss notwendig eine Krise entstehen“, sagte Johann Wolfgang von Goethe in seinen ‚Maximen und Reflexionen‘. „Denn es wird die Differenz offenbar zwischen denen, die das Einzelne trennen und getrennt darstellen, und solchen, die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und einfügen möchten.“ Die Aussage ist gut 200 Jahre alt – sie ist jedoch aktueller denn je. Denn in diesen unübersichtlichen Zeiten, in denen wir heute leben, hat sich auch der Diskurs in der Wissenschaft verändert.
Ganz in der Diktion Goethes erleben wir auch heute wieder, dass der Konsens in der Wissenschaft nicht mehr umfassend ist. Im Gegenteil: an den Schnittstellen unterschiedlicher Disziplinen gibt es nicht nur unterschiedliche, sondern zum Teil ganz gegensätzliche Bewertungen zu ein und demselben Thema. Ein Beispiel dafür ist die Feinstaub-Debatte. Während etwa Epidemiologen die Stickoxidbelastungen als extrem gefährlich einstufen, weisen das Lungenärzte als grotesk übertrieben zurück. Für den Laien klingt das wie Kakophonie. Vor allem aber lässt es ihn ratlos zurück und untergräbt dadurch das Vertrauen in die Wissenschaft.
Wissenschaft muss wieder Instanz für Wahrheit, Klarheit und Einordnung werden
Dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen, die Wissenschaft als Instanz für Wahrheit, Klarheit und Einordnung wieder ganz klar im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern – das ist eines der wichtigen Ziele des Wissenschaftsrats. Er ist ein bedeutendes Instrument des kooperativen Föderalismus zur Förderung der Wissenschaft in Deutschland und gleichzeitig das wichtigste Beratergremium der Bundesregierung und der Regierungen der Länder in Fragen von Wissenschaft, Forschung und Hochschule. In ihm wirken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Repräsentanten des öffentlichen Lebens gleichberechtigt mit den Vertretern von Bund und Ländern zusammen. Sie stehen in einem kontinuierlichen Dialog zu den zentralen Fragen des deutschen Wissenschaftssystems. Der Wissenschaftsrat vermittelt zwischen Wissenschaft und Politik einerseits sowie zwischen Bund und Ländern andererseits.
Ich bin sehr stolz auf meine Berufung in den Wissenschaftsrat
Ich bin sehr stolz und fühle mich geehrt, dass ich seit 1. Februar als eine von acht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, berufen vom Bundespräsidenten auf gemeinsamen Vorschlag der Bundesregierung und der Länderregierungen, Mitglied im Wissenschaftsrat sein darf. Die Berufung gilt für drei Jahre. Neben dem obigen Diskurs, den ich gleich noch etwas ausführen möchte, interessieren mich vor allem wissenschaftliche und ethische Fragen: was ist gute und von der Gesellschaft gewünschte Wissenschaft? Wie soll, ja wie muss der Inhalt dessen bewertet werden? Als Beobachter des Systems mit einem recht unverstellten Blick auf die Wissenschaft freue ich mich darauf, mit den renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in dem Gremium Gedanken auszutauschen.
Die Digitalisierung und ihre Auswirkung auf die Wissenschaft
Die Digitalisierung aller Lebensbereiche wirkt sich selbstverständlich auch auf die Wissenschaft in all ihren Zweigen aus. Wissenschaft war immer schon von Empirie geprägt – doch heute ist die Informationstechnologie derart leistungsfähig geworden, dass es dadurch auch die Wissenschaft mit einer nie dagewesenen Menge an Daten zu tun hat. Die Auswirkungen sind enorm: denn um die Muster in diesen Datenmengen erkennen zu können, reichen die Kompetenzen einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin in der Regel nicht mehr aus. Dies kann ich als Raumfahrtunternehmer ganz gut beurteilen. Nehmen Sie etwa die Daten, die Erdbeobachtungssatelliten liefern. Dabei handelt es sich um Informationen, die die Umwelt und das Klima betreffen. Solche Daten entfalten erst dann ihre volle Wirkung, wenn sie in einem Zusammenhang verschiedener Disziplinen interpretiert werden. Dann können sie etwa Erkenntnisse darüber liefern, wie sich der Zustand von Wäldern verändert, was wiederum Auswirkungen auf die Artenvielfalt hat – und am Ende darüber entscheiden kann, ob bestimmte Lebensgrundlagen weiter bestehen.
Querschnittsdenken ist also wieder stärker gefragt. In den Zeiten des Wandels und der Unsicherheiten darüber, wie es auf der Welt weitergehen soll, ist ein objektiver, unbestechlicher Überblick wichtig. Das Internet und die sozialen Medien haben ja auch schon längst dafür gesorgt, dass es kein Herrschaftswissen mehr gibt. Das hat aber leider auch dazu geführt, dass Quacksalber und Möchtegern-Experten zu allem und jedem ihren Unsinn verbreiten. In der heutigen digitalisierten Medienwelt ist es diesen Kreisen möglich, ihren Sermon ungefiltert in die Öffentlichkeit zu tragen - mit dem Ergebnis, dass Menschen zunehmend unsicher darüber sind, was sie als gesicherte Erkenntnis ansehen können. Es wird auch zunehmend schwieriger, ein klares Bild über bestimmte Vorgänge zu gewinnen. Wahrheit und Relevanz von Themen oder Diskussionen sind für die Bürger kaum noch zu greifen.
Wir brauchen ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Wissenschaft
Was wir also benötigen, ist wieder mehr Orientierung durch die Wissenschaft – und vor allem ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Wissenschaft an sich in einer sich schnell ändernden Welt, in der durch eine globalisierte, digitalisierte Kommunikation Informationen häufig unübersichtlich, unüberprüfbar, unzurechenbar und ohne Kontext, Autorität und Integrität auf uns einprasseln. Wissenschaft bekommt in solchen Zeiten als Faktenchecker, Erklärer und Einordner, kurzum: als Brückenbauer und Verbinder unterschiedlicher Ebenen und Disziplinen, eine immer größere Bedeutung.
Das Spannungsverhältnis von der Freiheit der Wissenschaft und den falschen Absichten einiger Wissenschaftler wird zwar niemals ganz aufgehoben werden können, aber wir müssen sicherstellen, dass die Menschen wieder mehr Klarheit und Transparenz gewinnen. Ein Beispiel für solche falschen Absichten ist etwa die Diskussion um den Klimawandel. Es ist wissenschaftlich bewiesen und unstrittig, dass der Mensch zum Klimawandel beigetragen hat und ihn durch sein gegenwärtiges Tun befördert. Es gibt jedoch Interessengruppen, die sich der Wissenschaft bedienen, um das Gegenteil zu behaupten. Das hat viel mit Populismus zu tun und wird vor allem im politischen Diskurs entsprechend genutzt. Dass das heute möglich ist, hat wiederum mit der digitalisierten Kommunikation zu tun, aber auch damit, dass es heute eben nicht mehr als Tabu gilt, Unpopuläres auch in der Wissenschaft auszusprechen; selbst auf die Gefahr hin, Kolleginnen oder Kollegen der eigenen Disziplin bloßzustellen.
Wer ist die wissenschaftliche Autorität?
Die Fragen, die wir in unserer Gesellschaft klären müssen, lauten: wer ist die wissenschaftliche Autorität? Wer verfügt über die wissenschaftlichen Methoden, die Kompetenz und das Wissen, um Themen von übergeordneter Relevanz zweifelsfrei einzuordnen? Dass wir wieder zu Zeiten zurückzukehren drohen, in denen quasi-inquisitorisch unliebsame Meinungen oder Erkenntnisse aus dem Diskurs verschwinden sollen, ist für mich unvorstellbar. Ich setze mich für die Offenheit von wissenschaftlichen Erkenntnissen ein. Ich möchte mich von diesen Erkenntnissen auch gern in meinem eigenen Weltbild erschüttern lassen. Wo wären wir heute, wenn sich Universalgelehrte wie Kopernikus oder Galilei von der damals herrschenden Lehre hätten einschüchtern lassen und ihre eigenen Gedanken einer anderen Ordnung der Welt im Universum nicht öffentlich gemacht hätten?
Kopernikus und Galilei sind übrigens auch wunderbare Beispiele dafür, dass die großen Fragen am Ende immer auf die wissenschaftliche Erkenntnis hinauslaufen. Ob wir eines Tages eine zweite Erde finden werden, auf der die Menschheit weiterexistieren kann, wenn unser Planet nicht mehr bewohnbar sein wird, ist keine theologische oder philosophische Frage. Es ist ein wissenschaftliches Problem, das übergreifend von Disziplinen gelöst werden muss, die sich im weitesten Sinn mit der Empirie zur Physik des Universums und der großen Dinge und Kräfte beschäftigen. Und natürlich mit der Frage von Wasser, Biologie und damit Leben außerhalb unserer Erde.
Zur Person
Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.