Nach dem Wettlauf ins All der 1960er Jahre wurde es für eine Zeit lang deutlich stiller um die Raumfahrt. Erst seit wenigen Jahren ist das Thema in den Köpfen der Öffentlichkeit wieder präsent. Auch heute hat die Raumfahrt noch eine militärische Komponente, die Begründung für das wiedererwachte Interesse der Allgemeinheit sieht Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx aber unter anderem in vom Klimawandel befeuerten Exodus-Fantasien und der von Milliardären wie Elon Musk und Jeff Bezos begründeten Pop-Space-Kultur. Im Interview erklärt er, warum Raumfahrt den Antrieb durch Träume braucht und warum das bedeutet, dass die Menschheit mit großer Wahrscheinlichkeit erst in der Mitte des 21. Jahrhunderts auf dem Mars landen wird.
Was fasziniert Sie am Weltraum und an der Raumfahrt?
Horx: Ich bin ein Kind der 60er Jahre. Die Mondlandung hat mich als Jugendlichen unglaublich in ihren Bann gezogen und beeindruckt. Ich war auch ein riesiger Fan aller Science-Fiction-Serien, die es zu der Zeit gab. Von Raumpatrouille Orion über Captain Future bis Raumschiff Enterprise. Ich habe mich dann lange mit den geistigen und psychologischen Wirkungen dieser Visionen und Inhalte auseinandergesetzt. Meine halbe Generation ist überdies geprägt von diesem Earthrise-Foto, das die Besatzung von Apollo 8 Weihnachten 1968 bei ihrer Umrundung des Mondes gemacht hat. Da hat die Menschheit die Erde erstmals als Ganzes vom Weltall aus gesehen. Dieser sogenannte Overview-Effekt hatte enorme Auswirkungen auf das Selbstbild der Menschen, auf unsere geistigen Perspektiven. Das ist dann im Verlauf der 80er und 90er Jahre verloren gegangen.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Es lag sicher daran, dass die Raumfahrt ihren praktischen Nutzen nicht gegen die Nöte und Bedürfnisse auf Erden behaupten konnte. Und dass es einfach langweilig geworden war, immer neue Schwerkraft-Experimente durchzuführen, die Abermillionen kosteten, und wobei man nicht genau wusste, wozu sie am Ende dienten. Aber als Zukunftsforscher finde ich interessanter, warum das heute wiederkehrt, warum und ob wir wieder eine Art Space Run und Weltraumboom erleben.
Haben Sie eine Antwort darauf?
Wenn man die langfristigen Linien des Zeitgeistes verfolgt, dann findet man Punkte, an denen diese sich wieder schneiden. Dafür müssen aber bestimmte Bedingungen herrschen. Erinnern wir uns kurz: die Raumfahrt wurde als eine sehr idealistische menschliche Aktivität wahrgenommen. In Wahrheit hatte es sehr viel mit Machtdemonstrationen und militärischer Aufrüstung zu tun. Die Amerikaner sind natürlich auch deshalb so entschlossen zum Mond geflogen, weil sie dort als erste sein wollten im Kalten Krieg. Astronauten waren im Übrigen auch keine Botschafter des Weltfriedens, sondern trainierte Kampfpiloten, die sich mit technischen Routinen vertraut gemacht haben. Armstrong, Aldrin und Collins, die Apollo-11-Crew, bekamen viele Jahre den Mund nicht auf, was auch damit zu tun hatte, dass sie nach einem eher, nun ja, funktionalistischen Charakterprofil ausgesucht waren. Heute sehen wir einen neuen Typus von Astronauten, die philosophische und teilweise sogar spirituelle, oft auch ökologische Botschaften haben, die zugänglich sind. Und es sind auch Frauen! Außerdem kommen neue politische Umstände hinzu.
Welche wären das?
Das ist zum einen ein neuer Systemkonflikt auf der Welt, der vor allem durch den Aufstieg Chinas bestimmt wird. Es gibt also wieder einen Wettbewerb, einen Drang ins All, der durchaus auch eine militärische Komponente hat. Zweitens ist eben durch den Klimawandel ein Verständnis der Verletzbarkeit unserer Lebensgrundlagen entstanden, das auch Exodus-Fantasien freisetzt, nach dem Motto: "Wenn es auf der Erde nicht klappt, dann brauchen wir eine Alternative". Das ist natürlich eine absurde Idee, aber sie wirkt stark als motivierendes Narrativ. Und drittens ist es so, dass große Raumfahrtprojekte zunehmend auch von Milliardären wie Elon Musk und Jeff Bezos finanziert werden. Dadurch ist so eine Art Pop-Space-Kultur entstanden, die vor allem den jungen Leuten Raumfahrt als coole Sache näherbringt. Dieser sogenannte Club of Billionaires rund um Musk, Bezos und auch Richard Branson hat ja durchaus eine Art Hype rund um die Raumfahrt ausgelöst. Plötzlich scheint wieder alles möglich, Start-Ups schießen in der Raumfahrtbranche geradezu aus dem Boden.
Durch den Klimawandel ist ein Verständnis der Verletzbarkeit unserer Lebensgrundlagen entstanden, das auch Exodus-Fantasien freisetzt, nach dem Motto: "Wenn es auf der Erde nicht klappt, dann brauchen wir eine Alternative".
Was kann dieser Hype denn in den kommenden Jahren, vielleicht bis 2030, auslösen?
Auf der einen Seite erzeugt er einen neuen Wettbewerb. Das wird der Branche sicher eine neue Dynamik verleihen. Die Monopolstellungen von NASA und ESA waren schon hermetisch. Jetzt gibt es ein paar Verrückte, die sich was trauen. Allerdings hat auch das eine gewisse Fragilität. Was man Elon Musk aber lassen muss: Er bewegt erstaunliche Dinge. Die Raketen von Space X sind großartig und innovativ. Aber die Risiken, die mit bemannter Exploration verbunden sind, sind auch gigantisch. Ich glaube nicht, dass es noch diesen existenziellen Heroismus wie vor 50 Jahren gibt, der auch Opfer in Kauf nimmt. Wenn es heute Tote bei einer Mission gäbe, was immer zu erwarten ist, könnte der Hype sehr schnell zu Ende sein. Dennoch ist es gerade Elon Musk, der immer wieder forsche Visionen formuliert. Von der Besiedlung des Mars noch in diesem Jahrzehnt, von Reisen tief ins All, von Planeten, die als zweite Erde fungieren könnten.
Wie realistisch ist das alles aus Ihrer Sicht?
Kulturell gehört Elon Musk zur Popkultur. Da ist immer alles ganz laut und emotional. Andererseits fahre ich seit fünf Jahren Tesla, und bin schon einmal die Strecke zum Mond mit einem Elektroauto gefahren, das schnell und zuverlässig ist und auch noch gut aussieht. Zwischen beiden Polen spannt sich die Zukunft der "Pop-Raumfahrt" auf.
Was meinen Sie damit?
Es gibt eine große Diskrepanz zwischen Story und Wirklichkeit. Wenn man physisch zum Mars will, dann muss man es richtig machen. Das heißt, dann muss man dort auch eine Station aufbauen und dort bleiben. Das ist schon noch was anderes, als eine Kapsel auf dem Mond zu landen und nach drei Tagen wieder nach Hause zu fliegen. Wenn Menschen tatsächlich künftig solche Reisen unternehmen sollen, müssen nicht nur grundlegende technische Probleme gelöst werden, sondern es muss auch alles grundlegend billiger werden. Selbst ein globaler Konzern könnte solche Ausgaben nicht stemmen. Darüber hinaus braucht es auch Zeit, einen neuen Mythos zu entwickeln, ein Narrativ für dieses größte Ereignis der Weltgeschichte zu kommunizieren. Deshalb meine ich, dass wir mindestens noch bis in die 40er Jahre dieses Jahrhunderts warten müssen, bis Menschen auf dem Mars landen.
Wieso ausgerechnet die 40er Jahre?
Weil es dann wieder eine Konstellation geben wird, in der Erde und Mars in einem bestimmten günstigen Verhältnis zueinanderstehen. Die Experten haben ausgerechnet, dass das Anfang August 2048 und Juni 2050 der Fall sein wird. Also dann, wenn die CO2-Emission des Planeten auf Null reduziert sein soll – das wäre doch eine schöne Konjunktion. Wenn ich also eine Prognose abgeben soll, dann würde ich als Zeitpunkt der ersten Landung einen der beiden Termine nennen. Aber nochmals: Eine derartige Mission mit Astronauten benötigt den Antrieb durch Träume und eine bestimmte Pionierhaftigkeit. Es braucht ein gigantisches Motiv. Und das ist im Grunde nicht in Sicht. Noch nicht. Es wird nicht gehen wie zu den Zeiten von Kolumbus, als sich einige vom König finanzierte Seeleute aufmachten, einen neuen Kontinent zu entdecken. Eigentlich wollte man ja nach Indien, der Gewürze wegen. Aber was sind die Gewürze des Mars? Rohstoffe? Ich glaube eher nicht. Eine Sitcom, eine Art Dschungelcamp im All? Das wäre fürchterlich.
Das ist die eine große Fantasie, die die Raumfahrt weckt: wie kommen wir zu anderen Planeten und möglicherweise am Ende sogar über unser Sonnensystem hinaus? Aber was ist mit dem Schutz der Erde? Werden wir irgendwann einmal das Schicksal der Dinosaurier erleiden?
Der Schutz der Erde ist natürlich eine unmittelbar einleuchtende Vision. Und derzeit auch die plausibelste von allen. Da wird man auch alle Nationen an einen Tisch bekommen. An dieser Front wird in den kommenden zwanzig Jahren sicher viel passieren.
Die Menschheit ist bei diesem wie bei allen anderen Themen immer an die Gesetze der Physik gebunden. In den Science-Fiction-Serien, die Sie früher ja auch gerne geschaut haben, sind diese Restriktionen durch Teleportation oder Hyperlichtgeschwindigkeiten überwunden. Wie realistisch ist das für eine absehbare Zukunft?
Das befinden wir uns in einem Bereich, den wir Deep Future nennen. Das ist schon außerhalb der seriösen Zukunftsforschung, da kann auch ich nur spekulieren. Man bräuchte auf jeden Fall eine unvorstellbare Menge an Energie, die wir nur aus der Quantenphysik ableiten könnten, um überlichtschnell zu reisen. So etwa die Energiemenge der Sonne.
Die andere Möglichkeit, weit ins Universum vorzudringen wäre, dass Menschen einfach viel, viel älter werden. Ist das realistisch?
Realistisch ist alles, was wir denken können. Die Frage ist aber: Ist es wahrscheinlich? Wenn man etwas näher darüber nachdenkt, dann wird klar, dass wir uns hier auf den Pfad einer transzendenten Spekulation bewegen. Wenn wir sagen "Menschen könnten 1000 Jahre alt werden", dann würde das implizit ein falscher Satz sein. Denn 1000 Jahre alte Menschen wären keine Menschen mehr. Denn jegliche Art der radikalen Lebensverlängerung rührt an den Festen menschlicher Konstitution. Das, was uns als Spezies zu Erfindern und Optimierern macht, ist ja gerade die Sterblichkeit. Eine Menschheit mit radikaler Langlebigkeit würde komplett dekadent werden, die Überlebensmotivation und damit jeder Antrieb, etwas zu schaffen, würde verloren gehen. Das wären dann wahrscheinlich eher organische Hüllen, die an irgendwelchen Maschinen hängen. Und damit würde ganz sicher der letzte Eroberungsdrang verschwinden. Warum soll man ins lebensfeindliche All gehen, wenn man ganz komfortabel dahindösen kann?
Das sind ja schon sehr philosophisch-moralische Grundfragen ...
In der Tat, aber auch sehr praktische Fragen: Wie sind Menschen eigentlich beschaffen? Was sind unsere inneren Motive? Aber ich finde, es ist doch schon spannend genug, in die nächsten 100 oder 200 Jahre der Zukunft zu schauen. Wie wird sich menschliche Wahrnehmung verändern, wenn wir mal Stützpunkte auf anderen Planeten haben werden? Denn dann beobachten wir uns ja sozusagen dauerhaft selbst. Das wird mit der Menschheit etwas machen, so wie damals durch den erstmaligen Blick der Apollo-8-Crew auf die aufgehende Erde vom Mond aus. Der Overview-Effekt ist entscheidend.
Was meinen Sie damit?
Nehmen Sie zum Beispiel den Klimawandel. Das ist ein die gesamte Menschheit herausforderndes Problem. Es zwingt uns, uns als Gesamtheit zu begreifen. Nur so ist ein solches Problem zu lösen. Das gleiche ist bei der Bedrohung durch einen großen, zivilisationsgefährdenden Asteroiden der Fall. Damit wäre die Menschheit insgesamt bedroht. Mit einem dauerhaften Blick von außen auf die Erde und ihre Probleme würde dieses Bewusstsein noch mal auf eine neue Ebene gehievt – und damit ein anderes kollektives Bewusstsein gebildet. Viel mehr Menschen als früher sprechen heute über globale Gesamtzusammenhänge. Das ist eine Folge des Overview-Effekts.
In diesem Jahr starten mehrere Missionen zum Mars, unter anderem auch die europäische Mission ExoMars 2020. Das Ziel ist es, unter der Oberfläche des Mars nach Spuren von Leben zu suchen. Was würde sich denn für das Bewusstsein der Menschheit ändern, sollte es tatsächlich gelingen, außerirdisches Leben nachzuweisen?
Ich denke, das wird sehr viel weniger auslösen, als allgemein immer erwartet wird. Denn selbst wenn es gelingt, Spuren von Leben zu finden: es werden mutmaßlich abgestorbene Mikroben sein, die wir wohl kaum emotional als Leben oder Lebewesen empfinden werden. Die kognitive Dissonanz, die in dieser Forschung steckt, ist doch, dass dort draußen in Wahrheit tatsächlich niemand ist.
Selbst wenn es gelingt, Spuren von Leben zu finden: es werden mutmaßlich abgestorbene Mikroben sein, die wir wohl kaum emotional als Leben oder Lebewesen empfinden werden.
Was meinen Sie denn mit Dissonanz?
Nun ja, wir wissen, dass es Millionen von Planeten gibt, aber faktisch sind wir sehr allein. Ich meine, das Finden von Lebensspuren in unserem Sonnensystem ist ziemlich aussichtslos. Leben funktioniert nicht isoliert, als einsame Mikrobe. Leben ist immer die Entstehung von ungeheurer Komplexität in verbundenen Strukturen. Deshalb ist meine Vermutung, dass wir nichts finden werden auf dem Mars oder auf dem Titan. Einzelne organische Zellen könnten sich dort nicht halten, und größere Organismen hätten wir längst entdeckt. Deshalb ist meine Überzeugung, dass wir nichts finden werden.
Das wird viele Raumfahrtbegeisterte enttäuschen. Deshalb zum Schluss die Frage: Wo stehen wir denn am Ende dieses Jahrhunderts? Worauf dürfen wir uns einstellen und vielleicht sogar freuen?
Es wird sicher Außenposten geben, auf dem Mond vielleicht, es wird einen orbitalen Tourismus für sehr Wohlhabende geben, aber das war‘s dann wahrscheinlich. Wir werden eine Menge von dem, was wir heute zu wissen glauben, revidiert haben. Vielleicht gab es gar keinen Urknall. Vielleicht ist die dunkle Materie ein Fehlschluss. Die Geschichte der Menschheit ist immer ein Wechsel von Idealisierung und Enttäuschung, von Narrativen, die sich dann wieder als sinnlos erweisen. Aber es wird Technologietransfers aus der Astronautik geben, die ganz erstaunlich sein werden.
Zum Beispiel?
Es werden Lebenserhaltungssysteme konstruiert werden, die autonom sind. Künstliche Habitate. Wenn das gelungen ist, werden wir sehr viel gelernt haben über das Wesen und die Bedingungen der Natur. Das Raumschiff ist ja eine Metapher für einen künstlichen Lebensraum, der völlig autonom ist. Wenn wir eine solche Technik wirklich beherrschen, nicht nur für ein paar Tage oder einige Wochen, würden wir im Umkehrschluss auch wieder unsere eigenen Bedingungen auf der Erde besser beeinflussen können. Wir lernen sozusagen auf dem Umweg über die Raumfahrt, die Erde zu terraformen. Wir werden künftig planetare Techniken entwickelt haben, um zumindest auf unserem eigenen Planeten zu überleben. Wir lernen zu verstehen, wie Natur funktioniert, und wie wir uns mit ihr ins Einvernehmen setzen können. Wir nennen das die "Blaue Technologie". Und das wäre ja schon was. Die Raumfahrt ist wie ein Spiegel, in dem wir uns immer wieder selbst erkennen können. Vielleicht ist das ihre wahre Aufgabe.