Einen unbekannten Kometen besuchen, der noch nicht einmal in unser Sonnensystem eingetreten ist? Nicht ganz einfach, aber auch nicht unmöglich. Mit Comet Interceptor plant die Europäische Raumfahrtagentur ESA die Analyse eines unberührten Objekts aus den Anfängen unseres Sonnensystems. Im Interview erklärt Timo Rühl, Systemingenieur für die Entwicklung der Plattform, worum es bei Comet Interceptor geht und warum die Erforschung von Kometen nicht nur von besonderem wissenschaftlichem Interesse, sondern auch besonders herausfordernd ist.
Worum geht es bei Comet Interceptor?
Timo Rühl: Comet Interceptor ist – wie der Name schon sagt – eine ESA-Mission, die einen Kometen abfangen soll. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir den Kometen tatsächlich aufhalten wollen. Es geht bei der Mission vielmehr darum, eine Sonde so zu platzieren, dass sie in der Nähe des Kometen ist, wenn dieser vorbeifliegt. Welcher Komet das sein wird, steht noch nicht fest und wird auch beim Start der Mission mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht bekannt sein.
Warum soll Comet Interceptor ausgerechnet einen Kometen besuchen, den wir noch gar nicht kennen?
Alle Missionen, die bisher zu Kometen geflogen sind – Beispiele dafür sind Rosetta oder Giotto – haben Kometen besucht, die aus dem Kuiper-Gürtel stammen. Diese Kometen sind kurzperiodisch, was bedeutet, dass sie relativ häufig in das innere Sonnensystem eintreten. Ihre häufigen Besuche bringen sie regelmäßig in die Nähe der Sonne, was dazu führt, dass gefrorenen Gasbestandteilen verdampfen und sich Staubpartikel vom Kometenkern ablösen. Dadurch entsteht eine ungebundene Atmosphäre, die Koma, die den Kometenkern umgibt. Gleichzeitig verändern die wiederkehrenden Verdampfungsprozesse aber auch die Zusammensetzung des Kometen. Dadurch sind Objekte aus dem Kuipergürtel nicht mehr in dem Zustand, in dem sie bei der Entstehung unseres Sonnensystems waren. Wirklich unberührte Objekte stammen aus der Oortschen Wolke oder sogar von außerhalb unseres Sonnensystems und durchlaufen diese Veränderungsprozesse zum ersten Mal, wenn sie in unser Sonnensystem eintreten. Das Problem ist, dass das das Auftauchen solcher Objekte nicht mit genügend Vorlaufzeit vorhergesagt werden kann, um dann noch rechtzeitig eine Raumsonde zu bauen und zu starten. Das bedeutet, dass wir die Mission in den Weltraum bringen müssen, bevor wir das Ziel kennen.
Passiert es häufig, dass solche ursprünglichen Objekte in unser Sonnensystem eintreten?
Objekte, die aus der Oortschen Wolke kommen, haben typischerweise sehr lange Umlaufzeiten, die sich in der Größenordnung von Zehntausenden von Jahren bewegen. Und wissen wir nur von zwei interstellaren Objekten, die unser Sonnensystem besucht haben, das kommt also definitiv nicht sehr häufig vor.
Und diese interstellaren Objekte haben unser Sonnensystem bereits wieder verlassen?
Richtig. Interstellare Objekte sind nicht gravitativ gebunden, sie durchqueren unser Sonnensystem nur einmal und kehren nie wieder zurück.
Wie soll Comet Interceptor ein solches Objekt abfangen?
Da der Eintritt eines geeigneten Zielobjektes in unser Sonnensystem nicht mit ausreichend langer Vorlaufzeit vorhergesagt werden kann und der Bau einer Raumsonde ein langwieriger Prozess ist, müssen wir hier einen speziellen Ansatz wählen. Wir bauen die Sonde unabhängig vom Auftauchen eines bestimmten Objektes und bringen sie in eine Parkposition im Weltraum, an der sie warten kann, bis ein geeignetes Ziel identifiziert wird.
Wie funktioniert das in der Praxis?
Comet Interceptor ist eine F-Class-Mission im Cosmic-Vision-Programm der ESA. Das F bedeutet, dass es sich um eine Fast-Track-Mission mit einer Entwicklungsdauer von etwa acht Jahren von der Auswahl bis zur Startbereitschaft handelt. Comet Interceptor soll in einer Doppelstartkonfiguration gemeinsam mit Ariel gestartet werden. Ariel ist eine M-Class-Mission der ESA, deren Ziel es ist, mit Hilfe der Transitmethode die Atmosphären einer Vielzahl von Exoplaneten zu analysieren. Beide Missionen werden zum Lagrange-Punkt L2 gebracht, wo Comet Interceptor in den Wartemodus gehen wird. Sobald sich ein geeignetes Ziel präsentiert, wird die Raumsonde dann so konfiguriert, dass sie einen Transfer zum Abfangen des Objekts durchführt.
Warum wurde L2 als Warteposition gewählt?
L2 ist einer der Gleichgewichtspunkte des eingeschränkten Dreikörperproblems bestehend aus Sonne, Erde und Raumfahrzeug. Das bedeutet, dass eine Umlaufbahn um diesen Punkt relativ stabil ist und kaum Kurskorrekturen erfordert. Von der Sonne aus gesehen befindet sich L2 etwa 1,5 Millionen Kilometer „hinter“ der Erde. Das macht ihn für Comet Interceptor zu einer guten Position, um zu warten und zum passenden Zeitpunkt den Transfer zum eigentlichen Zielobjekt zu machen.
Wie lange kann die Raumsonde im Wartemodus bleiben?
Das wird in erster Linie durch die verfügbare Menge an Treibstoff vorgegeben. Trotz der günstigen Lage von L2 wirken noch immer Kräfte, die die Bahn der Sonde stören, sodass Treibstoff verbraucht werden muss, um Korrekturen vorzunehmen. Ein weiterer limitierender Faktor sind Alterungserscheinungen an der Sonde selbst. Im Moment ist für Comet Interceptor eine Verweildauer in L2 von maximal vier Jahre geplant.
Was passiert, wenn in diesen vier Jahren kein geeignetes Ziel gefunden werden kann?
In diesem Fall wird die Sonde ein Sekundärziel ansteuern. Das bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich ein Objekt im Kuipergürtel besuchen wird.
In welcher Phase befindet sich die Mission derzeit?
Wie bereits erwähnt, soll die Mission im Jahr 2028 starten. Das bedeutet, dass der Zeitplan sehr eng ist, besonders für eine Wissenschaftsmission dieser Komplexität. Wir befinden uns derzeit in Phase B1, einer der vorläufigen Definitionsphasen. In dieser Phase konsolidieren wir das Raumfahrzeugdesign und die Systemanforderungen, kaufen aber noch keine Hardware ein. Nach Abschluss dieser Phase beginnen die Implementierungsphasen (B2/C/D), in denen wir das detaillierte Design ausarbeiten und beginnen, das Raumfahrzeug zu bauen und zu testen.
Welche Arten von Nutzlasten kommen bei der Mission zum Einsatz?
Insgesamt wird die Mission aus drei Raumfahrzeugen bestehen: der Hauptsonde und zwei kleineren Nebensonden. Diese Konfiguration ermöglicht Messungen an mehreren Punkten gleichzeitig. Jede der drei Sonden wird eine Reihe von Instrumenten tragen, die es erlauben, die Wirkung der Sonne auf den Kometen detailliert zu untersuchen. Die Aufteilung der Instrumente auf drei verschiedene Raumfahrzeuge hat auch den Vorteil, dass die Hauptsonde einen größeren Abstand zum Kometen halten kann. Die Staubpartikel, die den Kometen umgeben, bewegen sich mit extrem hohe Geschwindigkeiten. Erwartet werden Werte von über 70 Kilometern pro Sekunde relativ zu den Sonden. Das bedeutet, dass diese Staubpartikel trotz ihrer geringen Größe genug Energie haben, um eine Gefahr für die Sonden darzustellen.
Wie können die Raumsonden vor den Staubteilchen geschützt werden?
Die Sonden werden mit einem Staubschutz ausgestattet, der aus mehreren Schichten unterschiedlicher Materialien besteht. Dadurch kann die Energie der auftreffenden Staubpartikel abgeleitet werden und die Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung wird verringert.
Warum ist es für die Wissenschaft interessant, Kometen zu untersuchen?
Die Erforschung von Kleinkörpern liefert eine Menge wertvoller Daten. Die Objekte in der Oortschen Wolke sind so weit draußen, dass sie sich auf halbem Weg zwischen unserer Sonne und dem nächsten Stern befinden. Sie sind Überbleibsel aus der Frühzeit unseres Sonnensystems. Wir wissen, dass die Erde durch Kollisionen zwischen so genannten Planetesimalen entstanden ist, die sich im Laufe der Zeit zu Planeten verdichtet haben. Die Objekte in der Oortschen Wolke können daher als Fossilien aus der Frühzeit des Sonnensystems betrachtet werden. Sie können uns sagen, woraus die Objekte im frühen Sonnensystem bestanden haben. Mit den Daten von Rosetta, der ersten Mission, die einen Kometen umkreist hat, wurden bereits mehr als 4.000 Forschungsarbeiten veröffentlicht. Und trotzdem sind noch längst nicht alle Fragen zur Entstehung des Sonnensystems beantwortet.
Was macht Comet Interceptor besonders?
Für mich ist Comet Interceptor eine sehr inspirierende Mission. Sie ist herausfordernd, weil wir im Vorfeld nicht alle Einschränkungen und Randbedingungen kennen. Wir wissen nicht, welchen Kometen wir besuchen werden und wir wissen nicht, wann und wo wir ihn treffen werden. Wie ist die Position der Sonne beim Rendezvous, wo wird die Erde sein? Welche Gefahren gehen von der Staubumgebung aus? Man stürzt sich in die Lösung all dieser Probleme, aber wenn man einen Schritt zurücktritt und sich klar macht, dass man an der Erforschung eines Objekts arbeitet, das seit der Entstehung unseres Sonnensystems fast unverändert geblieben ist, gibt einem das einen gewaltigen Motivationsschub. Nicht nur mir, sondern dem ganzen Team. Und ich habe das große Glück, dass ich als Systemingenieur mit all den großartigen Leuten zusammenarbeiten darf, die zu dieser außergewöhnlichen Mission beitragen. Das schafft eine Menge Enthusiasmus.