Seit 2018 kooperiert OHB mit dem Ökumenischen Gymnasium in Bremen-Oberneuland. Die Schule bietet ein MINT-Profil an, das es den Schülern erlaubt, ab der Klasse 10 den Schwerpunkt Luft- und Raumfahrt zu belegen. OHB sieht darin eine Chance zur Nachwuchsförderung und unterstützt das Profil seit diesem Schuljahr regelmäßig mit Lehrkräften aus den eigenen Reihen. Am 7. Mai 2019 hat OHB im Rahmen der Kooperation einen besonderen Gast an die Schule gebracht: ESA-Astronaut Matthias Maurer hat den MINT-Schülern aus erster Hand von der Faszination Weltraum berichtet.
Es surrt und klickt auf dem Lehrerpult, die Schüler recken die Hälse. Der LEGO-Roboter hält schnurgerade auf Wand zu. Kurz vor dem Zusammenstoß schlagen die vorderen Abstandsmesser Alarm. Der Roboter stoppt und fährt im Halbkreis zurück. Anschließend legt er wieder den Vorwärtsgang ein. Dieses Mal fährt er auf die Tischkante zu. Bevor es zum Absturz kommt, wird eine Hand vor einen der seitlichen Sensoren gehalten. Sofort wendet der Roboter in die Gegenrichtung ab.
Es ist keine gewöhnliche Unterrichtsstunde am Ökumenischen Gymnasium (ÖG) in Bremen-Oberneuland. Statt Physiklehrer Dr. Rolf Gerding stehen mit Ullrich Uffelmann und Hartmut Claus zwei Raumfahrtingenieure von OHB am Lehrerpult und erklären, dass man Roboter, die auf fernen Planeten im Einsatz sind, nicht mehr von der Erde aus fernsteuern kann, da die Signalübertragung zu lange dauert. Zu den fernen Planeten zählt in diesem Kontext bereits der Mars. Ein Signal von der Erde braucht zwischen 3 und 22 Minuten, um den Mars zu erreichen. Zeit, in der ein Roboter sich in losem Gestein festfahren oder in ein Loch stürzen kann. Auf fremden Planeten müssen Roboter deshalb autonom agieren. Welche Sensoren dazu gebraucht werden und wie man Roboter programmiert, zeigen die dualen Studenten von Uffelmann und Claus. Diese studieren an der Hochschule Bremen Technische Informatik und absolvieren bei OHB den praktischen Teil ihrer Ausbildung zum Fachinformatiker, Fachrichtung Anwendungsentwicklung. Die LEGO-Roboter haben sie im Rahmen einer Studienarbeit gebaut und programmiert.
Die knapp 40 anwesenden Schüler aus dem MINT-Profil können sich die Probleme, mit denen technische Systeme auf fremden Planeten konfrontiert sind, gut vorstellen. Viele der Zehntklässler unter ihnen haben den Schwerpunkt Luft- und Raumfahrt gewählt, den das ÖG gemeinsam mit OHB anbietet. Diese Schüler haben in der Woche eine zusätzliche Stunde Physik, in der unter anderem von OHB-Ingenieuren die Grundlagen der Luft- und Raumfahrt vermittelt werden.
Stargast im blauen Overall
Zwischen den Schülern im Publikum sitzt noch ein weiterer Gast. Auch er kennt sich mit der Forschung im Weltraum aus. Anders als die Ingenieure bei OHB schickt er allerdings keine technischen Systeme ins All, sondern wird selbst hinfliegen.
Matthias Maurer ist Astronaut. An seinem dunkelblauen ESA-Overall ist das unschwer zu erkennen. Mit konzentrierter Miene sitzt er in der zweiten Reihe, lauscht dem Vortrag der Ingenieure und beobachtet die LEGO-Roboter der Studenten. Auch als einer der Studenten sich vor Aufregung verhaspelt und einige der Schüler schon die Augen verdrehen, bleibt er aufmerksam. Maurer ist ein bodenständiger Mensch. Dabei hätte er viele Gründe, auf andere Menschen herabzuschauen: Er ist promovierter Materialwissenschaftler und hat für seine Doktorarbeit gleich mehrere Wissenschaftspreise erhalten. Aus seinen Forschungsarbeiten sind mehr als zehn patentierte Anwendungen hervorgegangen. Er hat in vier europäischen Ländern studiert, Praxiserfahrung in Südamerika gesammelt und nach dem Studium eine Weltreise gemacht. Fünf Sprachen spricht er fließend. Gerade lernt er noch Russisch und Chinesisch.
Auf dem Teppich geblieben ist er trotzdem. Auf die Welt herabschauen wird er erst, wenn er ins All fliegt. Und das ist frühestens für 2020 geplant.
Auf verschlungenen Pfaden zum Ziel
Maurer ist auf Umwegen Astronaut geworden, seiner glänzenden wissenschaftlichen Karriere zum Trotz. 2008 sucht die ESA nach neuen Astronauten, sechs sollen es sein. Maurer, der zu der Zeit als Projektingenieur im Bereich Medizintechnik arbeitet, bewirbt sich – gemeinsam mit knapp 8500 anderen Menschen aus Europa. Maurer setzt sich durch, er schafft es zunächst unter die besten 800, dann sogar unter die besten 10 Kandidaten. Er macht sich Hoffnungen. Dann die Enttäuschung: Er wird nicht ausgewählt. Als Trostpreis winkt eine Stelle im Bereich Crew-Support. Am Boden. Auch den drei anderen in der letzten Runde ausgeschiedenen Bewerbern wird diese Möglichkeit angeboten. Sie lehnen dankend ab, Maurer nimmt an. Bis 2015 arbeitet Maurer in dieser und anderen Funktionen für die ESA. Unter anderem unterstützt er seinen ehemaligen Mitbewerber Alexander Gerst vom Boden aus bei dessen erster ISS-Mission.
Dann beginnt seine eigene Astronautenkarriere. „Matthias, du wolltest doch mal Astronaut werden“, leitet der damalige ESA-Generaldirektors Jean-Jacques Dordain seine nächste entscheidende Frage ein. „Willst du noch?“
Und ob Maurer will! Auf die informelle Frage folgt ein formelles Interview, dann ist die Sache klar: Maurer kann die dreijährige Grundausbildung als Astronaut beginnen. Auf die Frage, warum Maurer als Nachrücker ausgewählt wurde, antwortet Dordains Nachfolger, ESA-Generaldirektor Jan Wörner, knapp: „Weil er gut ist.“
2018 schließt Maurer seine Ausbildung offiziell ab und ist damit qualifiziert, ins All zu fliegen. Eine Mission ist ihm bisher nicht zugewiesen worden. Sobald das geschieht, braucht es weitere Vorbereitungszeit: Vor einem Start wollen noch bis zu zwei Jahre einer missionsspezifischen Ausbildung absolviert werden.
Matthias, du wolltest doch mal Astronaut werden. Willst du noch?
Botschafter für die Raumfahrt
Bis dahin ist Maurer unter anderem europaweit als Botschafter für die Raumfahrt unterwegs. Und diese Aufgabe liegt ihm. Er ist ein guter Redner, sympathisch, witzig, mitreißend.
Auch die Schüler am ÖG sind nach den ersten Sätzen von Maurer gefesselt. Die Pausenglocke verhallt ungehört, während er erzählt, wie auf der ISS durch eine verstopfte Toilette herausgefunden wurde, dass Astronauten in der Schwerelosigkeit Knochen abbauen und aufbauend auf dieser Erkenntnis Trainingspläne für die Astronauten und Medikamente gegen Osteoporose entwickelt wurden. Unter Schwerelosigkeit können für die medizinische Forschung zudem Proteine zu Kristallen gezüchtet werden und für die Landwirtschaft in extrem trockenen Gebieten stressresistentere Pflanzen herangezogen werden. Maurer ist anzumerken, dass er seinem ersten Flug entgegenfiebert. „Ich freue mich auf die ISS. Ich liebe die Wissenschaft, dort Experimente machen zu können, ist etwas ganz Besonderes“, sagt er. Die meisten Astronauten führen während ihres sechsmonatigen Aufenthalts auf der ISS über 100 wissenschaftliche Experimente durch.
Ich freue mich auf die ISS. Ich liebe die Wissenschaft, dort Experimente machen zu können, ist etwas ganz Besonderes.
Traumziel Mond
Noch lieber würde Maurer allerdings zum Mond fliegen. „Mein Traumziel ist der Mond, das würden vermutlich auch alle meine Kollegen sagen“, gibt er zu. „Aber der Mond ist auch anspruchsvoller, er ist weiter weg. Deshalb werden vermutlich zuerst Kollegen zum Mond fliegen, die schon auf der ISS gewesen sind.“ Maurer ist sich aber sicher, dass wieder Menschen auf dem Mond landen werden. „Wenn alles gut läuft, dann schon in den nächsten Jahren.“
In Anknüpfung an die Demonstration der LEGO-Roboter zu Beginn der Unterrichtseinheit beschreibt Maurer auch Szenarien möglicher Explorationsmissionen. „In einem Astronautenanzug steckt man wie in einem aufgeblasenen Fahrradschlauch. Sich darin zu bewegen, ist extrem anstrengend. Für Explorationsmissionen mit Astronauten auf dem Mars müssen andere Anzüge entwickelt werden. Dafür brauchen wir kluge Köpfe.“ Immer wieder spielt Maurer darauf an, dass in Zukunft in der Raumfahrt vermehrt Wissenschaftler und Ingenieure gebraucht werden.
Was muss man tun, um Astronaut zu werden?
Maurer will die Jugendlichen locken und ermutigt sie, Fragen zu stellen. Sofort schnellen mehrere Hände in die Höhe. Warum fliegen Astronauten überhaupt ins Weltall? Worauf kommt es an beim Auswahlverfahren zum Astronauten? Welcher Teil des Astronautentrainings ist Maurer am schwersten gefallen?
Maurer antwortet geduldig und ausführlich. Er erzählt von der Verwendung der ISS als Versuchsplattform, von ihrem Nutzen für die Medizin, die Biologie und die Materialwissenschaften.
Er erklärt, dass man, um Astronaut zu werden, die passende Ausbildung und einige Jahre Berufserfahrungen haben muss. Testpiloten, Naturwissenschaftler, Ingenieure und Mediziner haben die besten Karten. Gesund muss man sein, aber auch die emotionale Belastbarkeit ist von Bedeutung. Zudem sollte man mehrere Sprachen können. Englisch auf jeden Fall und zusätzlich im Idealfall Russisch und Chinesisch. Maurer profitiert auch von den interkulturellen Erfahrungen, die er während seiner Weltreise gemacht hat. Schließlich ist man im Weltraum für mehrere Monate auf wenigen Quadratmetern mit den Kollegen zusammengepfercht.
Am härtesten während seiner Astronautenausbildung fand er das Überlebenstraining im Winter in Schweden. Nach 48 Stunden in der Wildnis ohne Zelt und ohne Schlafsack bei -9 °C war Maurer froh, sich wieder in beheizten Räumen aufhalten zu dürfen. Für den Fall, dass eine Raumkapsel nicht wie geplant in die Erdatmosphäre eintritt und an unerwarteter Stelle landet, müssen die Astronauten auf Extremsituationen vorbereitet sein. Bei Wasserlandungen kann dazu auch die Abwehr von Haien zählen. Wie Astronauten das machen? Mit Haiabwehrpulver, dass speziell für einen solchen Fall mit an Bord der Raumkapsel genommen wird.
Da auch Maurers Karriere nicht geradlinig verlaufen ist, gibt er den Schülern am Ende noch einen Ratschlag mit auf den Weg: „Wenn ihr ein Ziel habt, dürft ihr nicht beim ersten Fehlschlag aufgeben.“ Er ist zuversichtlich, dass mit entsprechender Förderung die jungen Leute, die heute noch die Hälse nach LEGO-Robotern recken, morgen schon Satelliten bauen und übermorgen vielleicht eine Raumkapsel entwickeln, die die ersten Astronauten zum Mars bringt.