Marco R. Fuchs ist seit 2000 Vorstandsvorsitzender der OHB SE und seit 2011 Vorstandsvorsitzender der OHB System AG. Der 56-Jährige ist Jurist und seit 1995 bei OHB im Management tätig. Im Interview mit Kommunikationschef Günther Hörbst spricht er darüber, wie die Erdbeobachtung die Perspektive auf den Planeten Erde und die darauf lebende Menschheit verändert.
Die Rückkehr des deutschen Astronauten Alexander Gerst von der ISS kurz vor Weihnachten hat die Begeisterung der Menschen für die Raumfahrt noch einmal angefacht. Für viele geht von ihr eine enorme Faszination aus. Woher kommt diese Faszination?
Marco R. Fuchs: Sie rührt daher, dass es mit der Raumfahrt möglich geworden ist, die Erde zu verlassen. Das ist das Spektakuläre an dem, was Astronauten möglich ist. Sie sehen die Erde als Ganzes von oben. Man sieht dabei die verletzliche Gesamtheit dieses kleinen blauen Punktes im Universum. Dieses Gefühl drückt sich am stärksten in diesem inzwischen ikonografischen Foto der Crew von Apollo 8 aus, die 1968 den Aufgang der Erde über dem Horizont des Mondes eingefangen hat. Dieses Bild sowie der Schritt von Neal Armstrong aus der Landefähre Eagle auf den Mondboden im Juli 1969 sind die Bilder, die die Faszination Raumfahrt am emotionalsten transportieren. Das lässt kaum einen Betrachter unberührt.
Gerst hat nach seiner Rückkehr ein sehr emotionales Video gedreht, in dem er sich bei seinen ungeborenen Enkeln für den Umgang der Menschen mit der Erde entschuldigt. Diese Betroffenheit in ihm ist durch den sogenannten Overvieweffekt – also dem Blick aus dem All auf uns selbst- entstanden. Ist es denkbar, dass mit der Satellitentechnologie der Erdbeobachtung dieser Effekt für alle Menschen erlebbar gemacht werden könnte und damit dann eben auch mehr Sensibilität für die Verletzlichkeit des Planeten entsteht?
Die Emotionalität kommt durch das Bewusstsein der Verletzlichkeit. Und vor allem durch die Erkenntnis, dass wir alle auf diesen einen kleinen Punkt im All angewiesen sind. Zudem entsteht Erkenntnis beziehungsweise die Klarheit darüber, was man eigentlich schon weiß, durch die Darstellung. Dieses eine Bild der Erde macht sofort klar, worum es geht.
Worin besteht für Sie der größte Nutzen der Erdbeobachtung?
Man verschafft sich eindeutige Fakten. Unsere Kultur basiert auf Erkenntnis, auf Empirie. Man gesteht sich ein, dass man nicht alles weiß, dass Beobachtung noch weitere Erkenntnis bringt und dass Erkenntnis möglicherweise das Verhalten verändert. Erdbeobachtung führt in diesem Sinn dazu, dass wir mehr über die Erde erfahren und somit vielleicht besser und schneller herausfinden, wohin sie sich entwickelt. Der tiefere Sinn der Raumfahrt besteht in dem Fall darin, dass sie das eben großflächiger machen kann. Und daraus kann sie große Autorität ableiten. Denn am Ende geht es immer darum, Prognosen oder Theorien glaubhaft zu machen. Dazu muss man beobachten und Fakten sammeln. Bei Umwelt und Klima trifft das zumindest auf jeden Fall zu. Im Fall der satellitengestützten Aufklärung geht es vielleicht mehr darum, souverän und unabhängig die Wirklichkeit abzubilden, um zu wissen, was ist. Daraus werden dann politische und gegebenenfalls militärische Entscheidungen abgeleitet.
Umweltbeobachtung jedoch wird mit der Frage konfrontiert sein, wie man langfristige Entwicklungen bewerten und beeinflussen kann.
Welcher der genannten Bereiche ist für OHB am wichtigsten?
Das kann man gut in Wellen beschreiben. Lange Zeit war für OHB der Bereich satellitengestützte Aufklärung am wichtigsten. SAR-Lupe war ein Projekt, das uns vor rund 18 Jahren in eine neue Liga katapultiert hat. Wenn man derzeit in unsere Hallen schaut, sind Satelliten für die Wetterbeobachtung der größte Bereich. Langfristig ist sicher der Bereich Umwelt einschließlich Wetter und Klima am bedeutendsten. Die Umweltüberwachung aus dem Weltraum wird ein Ausmaß annehmen, das wir uns im Moment noch gar nicht vorstellen.
Wie meinen Sie das?
Die Umweltüberwachung wird eine Permanenz und Vielschichtigkeit bekommen, die sie von allen anderen Bereichen deutlich unterscheidet. Bei der Aufklärung geht es um drei, vier abbildende Sensoren, zum Beispiel hochauflösende elektronische Optik, Radar oder Infrarot. Für die Umwelt gibt es deutlich mehr. Und zwar in der Form, dass ich überzeugt bin, wir werden in Zukunft möglicherweise über Sensoren reden, die eine eigene Satellitenkonstellation notwendig machen.
Und welche Entwicklungen sehen Sie für die Erdbeobachtung insgesamt?
Sie wird sich unterschiedlich im Sinne des Innovationszyklus entwickeln. Aufklärung informiert über den Status Quo. Wetterbeobachtung informiert über das Heute, Morgen und Übermorgen. Umweltüberwachung jedoch wird mit der Frage konfrontiert sein, wie man langfristige Entwicklungen bewerten und beeinflussen kann.
Leistet OHB somit einen Beitrag, den Planeten langfristig zu schützen und zu erhalten?
Einen Beitrag, ja. Die Raumfahrt nimmt für sich ja insgesamt in Anspruch, dass sie Gutes für die Erde leistet. Für die Überwachung der Umwelt nehmen wir natürlich auch in Anspruch, dass die Erde damit bewahrt werden soll.
Und der Nutzen für die Menschen? Wird der Ihrer Meinung nach im Alltag wahrgenommen?
Für die Wetterbeobachtung ist das gar keine Frage, selbstverständlich. Das ist das Alltäglichste, das man heute als Information bekommen kann. Und viele Ältere erinnern noch, dass die Wettervorhersage lange Zeit mehr mit Wahrsagerei als Empirie zu tun hatte. Heute ist das völlig anders. Wettervorhersagen sind verlässlich geworden. Es ist eine Naturwissenschaft geworden, die präzise Vorhersagen liefert. Kurzum: Das Wetter ist die alltäglichste Frage, die jeden umtreibt. Jeder Mensch, in allen Kulturen, in allen Lebenslagen, interessiert sich für das Wetter.
Das Wetter ist die alltäglichste Frage, die jeden umtreibt.
Das klingt nach einem dauerhaften Geschäftsmodell.
Daran glaube ich fest. Die Wetterbeobachtung wird noch eine sehr, sehr lange Zeit sehr, sehr wichtig sein. Das Geschäft mit Satelliten in dem Bereich profitiert davon, weil Satelliten für die Wetterbeobachtung in den letzten Jahrzehnten sehr viel besser geworden sind. Die Frage ist immer die gleiche: Was kann man beobachten, welche Erkenntnisse gewinnt man und was kann man daraus ableiten? So gesehen hat die Raumfahrt der Wettervorhersage viel gebracht, umgekehrt aber auch das Wetter der Raumfahrt.
Derzeit wird in unseren Hallen die nächste Generation der Wettersatelliten gebaut, MTG. Was ist der große Fortschritt dabei?
Es gibt Imager- und Sounder-Satelliten. Bei den Imager-Satelliten geht es darum, die Bildgebung weiter zu verbessern. Der große Fortschritt aber sind die Sounder-Satelliten. Damit sind Profilmessungen in der Vertikalen möglich, also eine dreidimensionale Erfassung von Atmosphärendaten. Diese Innovation des Sounders ermöglicht eine genauere langfristigere Vorhersage und auch lokale Wetterereignisse werden sich besser vorhersagen lassen.
Mit Eaglet haben wir auch kleine Satelliten im Programm. Welche Rolle werden diese Kleinsatelliten spielen?
Sie werden hoffentlich zu einer wichtigen Ergänzung unseres heutigen Portfolios werden. Das Spektrum unserer Satelliten wird damit sehr groß sein – von fünf Kilo bis fünf Tonnen. Die Kleinsatelliten haben den Vorteil, dass sie in Schwärmen und damit an vielen Stellen gleichzeitig messen können. Die Schwarmintelligenz sorgt für ein großes Lagebild. Aus dem Grund bin ich überzeugt, dass diese Kleinsatelliten ihren Markt finden werden.
Im November, auf der ESA-Ministerratskonferenz, wird auch über die europäische Erdbeobachtungsmission Copernicus entschieden. OHB ist derzeit mit insgesamt fünf Machbarkeitsstudien an der Mission beteiligt. Wie wichtig ist Copernicus für OHB?
Sehr wichtig. Bislang sind wir an dem Programm nur mit einem begrenzten Anteil am Projekt Sentinel-4 involviert. Es besteht für uns ein großes Zukunftspotenzial. Für OHB ist es strategisch gesehen das größte neue Feld, das wir uns erschließen wollen.
Was ist das Ziel für OHB bei Copernicus?
Wir möchten bei zwei von sechs möglichen neuen Missionen Systemführer werden und bei zwei weiteren eine substanzielle Rolle übernehmen, wie zum Beispiel die Payload-Verantwortung.
Ein weiteres ehrgeiziges, aber sehr komplexes Projekt ist der Umweltsatellit EnMap. Es gab viele vor allem technische Probleme und Verzögerungen. Inzwischen ist das Projekt aber auf der Zielgeraden. Freuen Sie sich?
Ja, weil sich daran zeigt, dass wir in unserer Firma den Mut haben, Dinge anzupacken, die zuvor noch nie gemacht wurden, und dass wir die Ausdauer haben, für die enormen Herausforderungen dann auch Lösungen zu finden. Insofern freue ich mich sehr, zumal ein ähnlicher Satellit – Prisma von unserer Tochtergesellschaft OHB Italia – fertig ist und kürzlich erfolgreich gestartet wurde.
Was war das Herausfordernde an EnMap?
Das Beobachtungsinstrument des Satelliten ist eine Innovation und so gesehen natürlich technisch enorm herausfordernd. Das Projekt war deutlich schwieriger, als wir am Anfang dachten. Es hat sich über die Jahre aber enorm entwickelt. Aus einem ursprünglich einfachen Kleinsatelliten ist ein sehr komplexer mittlerer Satellit geworden. Technisch und finanziell.
EnMap ist ein Hyperspektralsatellit. Was bedeutet das?
Hyperspektral bedeutet, dass Daten in 20 bis 250 spektralen Kanälen aufgezeichnet werden, die von Wellenlängen im ultravioletten Bereich bis zum langwelligen Infrarot reichen. Messungen mit der Genauigkeit von EnMAP hat es bislang vom Weltraum aus noch nicht gegeben. Es gibt auf der Welt überhaupt nur zwei Projekte, für die Hyperspektralsatelliten mit dieser Komplexität entwickelt und gebaut werden – und beide Projekte finden bei OHB statt.
Im Bereich Aufklärung sind wir führend, bei Wettersatelliten sind wir durch das MTG-Projekt bei den großen Playern dabei.
Es gibt auf der Welt überhaupt nur zwei Projekte, die Hyperspektralsatelliten dieser Komplexität entwickeln und bauen – und beide Projekte finden bei OHB statt.
Was bedeutet dieser Technologievorsprung strategisch?
Besonders für die Umweltbeobachtung lassen sich mit dieser Technologie qualitativ bessere und vor allem nützlichere Daten beschaffen. Hyperspektraltechnologie lässt Rückschlüsse auf dynamische Umwelteinflüsse zu. Es geht darum, qualitative Aussagen über etwa die Entwicklung von Böden oder der Vegetation treffen zu können.
Bedeutet das also, je mehr Erdbeobachtungssatelliten dem alltäglichen und sogar wirtschaftlichen Nutzen der Menschen dienen, desto unverzichtbarer wird der Service angesehen werden?
Richtig. Die für uns ideale Situation ist tatsächlich die permanente Überwachung der Erde bei Umwelt, Klima und Sicherheit. Denn dann sind wir Teil der Infrastruktur, einer Art Erkenntnisinfrastruktur, die rund um die Uhr Daten zur Verfügung stellt.
Welche Projekte sind im Bereich Aufklärung für OHB am wichtigsten?
SAR-Lupe läuft seit über elf Jahren sehr erfolgreich im vollen operationalen Betrieb, ohne dass es in einem Jahrzehnt auch nur die geringsten Ausfälle gab. Das Nachfolgesystem SARah wird gerade umgesetzt und ist weit entwickelt. Wir haben zudem zwei wichtige Projekte für Deutschland und Luxemburg im Bereich hochauflösender elektro-optischer Aufklärung. Zudem würden wir gerne mit unserer Kleinsatellitenserie Eaglet mit dem italienischen Staat zusammenarbeiten. Eaglet 1 ist Ende 2018 erfolgreich gestartet worden, Eaglet 2 wird derzeit im Auftrag des italienischen Verteidigungsministeriums gebaut.
Wie viele dieser Kleinsatelliten sind im Idealfall möglich?
Rund 60. Eaglet 1 fliegt und sendet Bilder, Eaglet 2 ist beauftragt und über Eaglet 3 und 4 wird verhandelt. Wir hoffen, dass wir diese Flotte von vier Demonstrationssatelliten ins All bekommen, um belegen zu können, dass das Konzept funktioniert.
Auf welche Potenziale schauen Sie, wenn Sie Umwelt und Klima betrachten?
Bei den Wettersatelliten schauen wir im Rahmen des MTG-Projektes auf die Imager- und die Sounder-Satelliten. Unser dritter Beitrag im Bereich Wetter ist der Microwave-Imager (MWI), der als weitere Nutzlast für die zukünftigen polarfliegenden, europäischen Wettersatelliten von OHB Italia gefertigt wird. Bei den Umweltsatelliten schaue ich auf Sentinel 4, unsere Beiträge zur Flex-Nutzlast, EnMap, Prisma sowie die neuen Copernicus-Missionen. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei natürlich bei den kommenden Copernicus-Missionen. Dort in einem vernünftigen Umfang dabei zu sein, ist für uns das Wichtigste.
Wie definieren Sie OHB im Bereich der Erdbeobachtung?
Wir können da recht selbstbewusst sein. Im Bereich Aufklärung sind wir führend, bei Wettersatelliten sind wir durch das MTG-Programm bei den großen Playern dabei. Bei Copernicus sind wir der Neue. Da wollen wir wie gesagt in Zukunft ein gewichtiges Wort mitreden.
Zur Person
Marco R. Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und der OHB System AG. Marco R. Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.