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Eine Kolumne von Marco Fuchs: Gedanken über Zeit und Raum

„Der Blick in den Kreißsaal des Universums“

20. Juli 2022. „Physik wird Poesie“ hat die Wochenzeitung Die ZEIT über jene spektakuläre Aufnahme des neuen James Webb Space Telescope (JWST) getitelt, mit der die NASA am 12. Juli 2022 an die Öffentlichkeit gegangen ist. Besser kann man die Wirkung, die dieses Bild des Galaxienhaufens SMACS J0723 auf die Betrachter hat, wohl kaum beschreiben. Zumindest für mich kann ich das so sagen: Ich würde fast von Demut oder sogar Ehrfurcht sprechen, die diese und auch die anderen veröffentlichten Aufnahmen des JWST bei mir ausgelöst haben.

Aufnahmen der Vergangenheit

Die Aufnahme des Galaxienhaufens – auch James Webb Deep Field genannt – gewährt nämlich einen bislang nicht möglichen, viel tieferen Blick ins Universum. Die Galaxien, die hinter dem rund 4,5 Milliarden Lichtjahre entfernten Haufen SMACS J0723 zu sehen sind, sind noch viel, viel älter. Astronomen datieren sie auf rund 13 Milliarden Jahre. Somit blicken wir buchstäblich in die Pubertät des Universums. Noch nie zuvor haben Menschen so weit und vor allem in einer solchen Schärfe in die Vergangenheit sehen können. Möglich gemacht hat es ein Instrument, dessen Entwicklung und Bau 24 Jahre gedauert hat. Über diesen Zeitraum haben rund 20.000 Menschen an dem Teleskop gearbeitet. Die Kosten lagen am Ende bei rund 10 Milliarden Dollar.

Doch trotz dieser enormen Summe wage ich die Prognose: Das James-Webb-Teleskop wird am Ende seiner Lebenszeit in rund 20 Jahren jeden Cent davon Wert sein.

Distanz zur Erde schärft den Blick auf uns selbst

Neben bahnbrechenden Entdeckungen, die es mit Hilfe der hochpräzisen Instrumente mit Sicherheit in den kommenden Jahren geben wird, werden die Aufnahmen auch einen prägenden Einfluss auf unsere Sicht auf den Ursprung von allem haben. Je tiefer, weiter und schärfer der Blick von James Webb in die Ursprünge unseres Universums wird, desto mehr werden wir Menschen uns selbst bewusst werden. Denn erst die Distanz zur Erde verschafft uns einen ganz intensiven Blick auf uns selbst.

Diesen Effekt gab es schon einmal – am Heiligen Abend 1968. Da erreicht die Crew von Apollo 8 die Mondumlaufbahn. Nach der vierten von zehn Umrundungen macht NASA-Astronaut William Anders mit seiner Hasselblad-Kamera einige Aufnahmen von der Erde, die er hinter dem Mondhorizont erblickt. Dass seine Bilder der aufgehenden Erde zu Ikonen werden, kann er da noch nicht wissen. Doch das Bild, das als „Earthrise“ in die Geschichte eingeht, hat den Blick der Menschheit auf sich selbst für immer verändert. Es war das erste Mal überhaupt, dass Menschen im wahrsten Sinn des Wortes auf sich selbst geschaut haben.

Den Effekt, der die Astronauten damals in den Bann gezogen hat, wird heute allgemein als „Overview“-Effekt bezeichnet. Der Apollo-14-Astronaut Edgar Mitchell, der 1971 als sechster Mensch den Mond betrat, beschrieb diesen Eindruck einmal so: „Mir wurde klar, dass ich aus denselben Partikeln und Atomen bestehe, wie die Objekte, die ich außerhalb unseres Raumschiffs gesehen habe. Ich bin also auch nichts anderes als Sternenstaub.“

Lebensdauer des Teleskops beginnt erst

Und auf diese Weise betrachtet, entfaltet das James-Webb-Teleskop für mich eine unglaubliche Faszination. Denn mit den Aufnahmen, die wir noch erwarten dürfen, können wir buchstäblich die Geburt dieses „Sternenstaubs“ sehen. Mit anderen Worten: Wir schauen in den Kreißsaal des Universums. Das bedeutet am Ende aber nichts anderes, als dass wir plötzlich ein Bild davon haben, wie alles Existenzielle geboren wurde. Auch wir Menschen. Denn aus dem, was sich damals ausgehend vom Urknall immer weiter ins Universum ausgebreitet hat, sind Sterne und Planeten geworden – und irgendwann vor 4,6 Milliarden Jahren auch die Erde, auf der dann irgendwann Pflanzen, Dinosaurier und Menschen entstanden.

Worauf ich jedoch an dem neuen Observatorium im All am meisten gespannt bin, ist, was noch kommen wird. Die Ergebnisse, die in den vergangenen Tagen die Welt begeistert haben, beruhen auf gerade einmal fünf Tagen Beobachtungszeit. Die richtige Arbeit mit dem Teleskop geht ja jetzt erst richtig los. Jetzt buchen Tausende Forschungseinrichtungen weltweit Termine, um James Webb auf ihren gewählten Himmelsausschnitt richten zu können. Ich bin sicher, dass diese Beobachtungen unsere bisherigen Vorstellungen von den Gegebenheiten im Universum an der einen oder anderen Stelle gehörig auf den Kopf stellen werden. So war es auch mit dem Hubble-Teleskop. Die berühmte Deep-Field-Aufnahme aus dem Jahr 1995 hat unser Verständnis des Universums revolutioniert. Damals richteten die Forscher das Hubble-Teleskop zehn Tage lang auf einen scheinbar leeren, schwarzen Fleck im All – und sahen im Anschluss ein Bild, auf dem rund 3.000 Galaxien abgebildet waren, von deren Existenz zuvor kein Mensch wusste.

Ich bin deshalb fest davon überzeugt, dass uns das James-Webb-Teleskop sehr viele neue, unglaubliche und faszinierende Geschichten darüber erzählen wird, woher wir kommen und was wir sind. Ich bin kürzlich 60 Jahre alt geworden. Und weil ich vorhabe, mich gut zu halten, werde ich hoffentlich einen Teil der Erkenntnisse dieses Super-Observatoriums noch selbst bewusst erfahren können. Die Aussicht darauf begeistert mich sehr.

Dieses Bild des James-Webb-Teleskops ging um die Welt und erlaubt einen Blick auf die Geburt von Sternen. © NASA, ESA, CSA, STScI

Zur Person

Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.