4. August 2022. Die Entwicklung der letzten Wochen hat mich leider nicht mehr wirklich überrascht. Als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine Ende Februar begonnen hatte, war mir schnell klar, dass diese Ungeheuerlichkeit nicht ohne drastische Folgen für viele internationale Projekte bleiben würde – auch in der Raumfahrt. Nach dem Aus für die europäisch-russische Mars-Mission ExoMars, dem Ende der Starts mit der russischen Sojus-Rakete vom europäischen Raumfahrtbahnhof Kourou (und dem damit verbundenen Ausfall des geplanten Starts von zwei weiteren Galileo-Navigationssatelliten) und dem vorläufigen Ende aller Kooperationen in der Wissenschaft, haben die Russen nun auch die Kooperation bei der Internationalen Raumstation ISS aufgekündigt. Russland wird zwar die laufenden Verträge bis 2024 erfüllen, will danach aber endgültig aussteigen und seine eigene Station im All errichten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie dazu zunächst ihre eigenen Module abkoppeln und als kleinere Station weiterbetreiben. Möglicherweise koppeln sie später etwas Neues an.
Ausstieg aus der ISS und Aufbau einer eigenen russischen Station
Für mich als Raumfahrtunternehmer war diese Entscheidung natürlich irgendwie absehbar; zu schrill und martialisch waren die Provokationen des kürzlich abberufenen Roskosmos-Chefs Dmitrij Rogosin. Der hatte abwechselnd mit Absturz oder Abschaltung der ISS gedroht. Sein Nachfolger Jurij Borissow zieht nun im wahrsten Sinn des Wortes den Stecker – und kündigt im gleichen Atemzug eine eigene russische Raumstation an. Damit wären dann demnächst drei Raumstationen im All: die ISS, die chinesische Raumstation „Himmelspalast“, die seit Anfang Juni 2022 dauerhaft bewohnt ist, sowie die angekündigte russische Station.
Was kommt nach der ISS?
Die ISS soll auf jeden Fall spätestens 2030 kontrolliert zum Absturz gebracht werden. Bis dahin ist ein Weiterbetrieb aber auch ohne Russland möglich. Die Amerikaner haben den Transport von Astronauten ja inzwischen unabhängig im Griff. Und auch die Bahnkorrektur der ISS, also das Zünden von Triebwerken, um das Absinken der Station aufgrund der Bremswirkung der Restatmosphäre auszugleichen, ist durch das amerikanische Versorgungsmodul Cygnus möglich. Zuletzt wurde das Manöver Ende Juni 2022 erfolgreich ausgeführt. Nichtsdestotrotz wird die ISS Ende des Jahrzehnts das Ende ihres Lebenszyklus erreicht haben. Das wirft die Frage auf, was nach der ISS kommt. Und es muss entschieden werden, wie sich der Westen im LEO (Low Earth Orbit), also dem niedrigen Erdorbit zwischen 200 und 2000 Kilometer über der Erde, aufstellen will.
Die NASA hat im Dezember 2021 dazu einen wichtigen Schritt gemacht. Die US-Raumfahrtbehörde hat drei private Unternehmen beauftragt, eine neue Raumstation zu entwickeln und dafür insgesamt 416 Millionen Dollar vergeben. Eine dieser geplanten Stationen heißt „Orbital Reef“ und wird federführend von den US-Unternehmen Blue Origin (gehört zu Amazon) sowie Sierra Space (gehört zum Technologiekonzern Sierra Nevada) vorangetrieben. Ein anderes Projekt heißt Starlab (Nanoracks und Lockheed Martin). Eine dritte, noch nicht benannte Station wird vom Rüstungskonzern Northrop Grumman entwickelt.
Alle Unternehmen haben Ende Juli auf einer Konferenz in Washington beteuert, ihre Projekte planmäßig bis zum Ende der ISS im Jahr 2030 einsatzbereit im Orbit zu haben. Ein viertes Unternehmen, Axiom Space, verfolgt ein anderes Konzept: Als enger Partner der NASA will es bereits Ende 2024 ein erstes eigenes Modul an die bestehende ISS anbauen. Weitere sollen bis 2030 folgen – und dann ohne die alten ISS-Module als private Raumstation weiter um die Erde fliegen.
Ein bunt gemischter Gewerbepark im Weltraum
Was alle diese Konzepte vereint: Sie stehen aufgrund ihres Geschäftsmodells vielen verschiedenen Nutzern zur Verfügung, privaten Unternehmen ebenso wie wissenschaftlichen Einrichtungen, aber auch als Hotel für Weltraumtouristen könnten die Stationen dienen. Was künftig im LEO geplant ist, kann man auch etwas flapsig als einen bunt gemischten Gewerbepark im Weltraum bezeichnen. Das meine ich gar nicht abschätzig: Es ist nur konsequent, auch bei der Zukunft von Raumstationen dem Trend zur Kommerzialisierung der Raumfahrt Rechnung zu tragen. Und ich war immer schon ein großer Verfechter von Wettbewerb in der Raumfahrt. Wieso sollte das nicht auch für Raumstationen ein funktionierendes Prinzip sein? Allerdings glaube ich nicht, dass es mehr als zwei kommerzielle Stationen im LEO geben wird.
Als Raumfahrtunternehmer aus Deutschland interessiert es mich natürlich, welche Möglichkeiten es auch für europäische Unternehmen in diesem Zusammenhang gibt. OHB ist in diesem Zukunftsfeld auf jeden Fall dabei. Erst kürzlich haben wir mit Sierra Space eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit im Projekt Orbital Reef unterschrieben. Damit sichern wir uns die Möglichkeit, die Station für europäische Zwecke im Bereich der astronautischen Raumfahrt und der Forschung zu nutzen. Es ist aus europäischer Sicht unglaublich wichtig, im Weltraum weiter stark, selbständig und innovativ zu sein. Insbesondere jetzt, wo wir feststellen müssen, dass die internationale Zusammenarbeit wie bisher auch im All ein für alle Mal vorbei ist. Auch mit Axiom sind wir für mögliche Kooperationen im Gespräch. Ein erstes Treffen mit dem Präsidenten und CEO Michael Suffredini war vielversprechend. Das Aus der Kooperation mit den Russen wird sich nicht nur auf künftige Raumstationen auswirken, sondern auch auf die Planungen für den Mond. Dort wollte die ESA eigentlich mit Roskosmos die Luna-Missionen gemeinsam durchführen. Damit sollten neue Ausrüstung und Technologien getestet werden.
Vom Gateway zu Mond, Mars und Saturnmonden
Was ganz ohne Russland im Zusammenhang mit dem Mond weiter vorangetrieben wird, ist eine Raumstation, die um den Erdtrabanten kreist – das Lunar Gateway. Die geplante Station wird von NASA, ESA, der japanischen Raumfahrtagentur JAXA und der Raumfahrtagentur Kanadas CSA entwickelt und gebaut. Auch hier ist OHB an einem der europäischen Module beteiligt. Russland war anfangs auch an dem Projekt beteiligt, ist aber Anfang 2021 ausgestiegen.
Die Station soll laut Plan im Jahr 2027 ihren Betrieb aufnehmen, aber anders als die ISS nicht dauerhaft besetzt sein. Vielmehr wird das Gateway dazu dienen, Astronauten mit den amerikanischen Artemis-Missionen über das Gateway zur Mondoberfläche zu bringen. In den 2030er-Jahren könnten Menschen vom Lunar Gateway aus Reisen Richtung Mars oder gar zu Saturn-Monden unternehmen.
Das ist jedoch alles noch Zukunftsmusik. Im Hier und Jetzt gibt es einen schrecklichen Krieg auf der Erde in der Ukraine und im All eine Frontstellung, die ich nicht anders als einen neuen Kalten Krieg nennen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass Russland auf seine eigene Raumstation verzichtet und sich an China wendet, um im „Himmelspalast“ einzuziehen – eine Absichtserklärung der beiden Nationen für eine gemeinsame Basis auf der Mondoberfläche gibt es immerhin schon. Dann stünden sich die alten Blöcke des Ostens und des Westens wieder gegenüber wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nicht gut für die Probleme, die wir auf diesem Planeten nur gemeinsam und nicht gegeneinander lösen werden. Ich bin und bleibe aber zuversichtlich. Die Raumfahrt hat es schon einmal geschafft, dass sich tief im Kalten Krieg Russen und Amerikaner die Hände gereicht haben: 1975, als beim ersten gemeinsamen Projekt der beiden Länder ein Apollo-Raumschiff an ein Sojus-Raumschiff ankoppelte und sich die Raumfahrer im All die Hände schüttelten.
Zur Person
Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.